Der »Ground Zero« der Opioid-Krise

Null Toleranz für Schmerz? Drogen sind ein Grund für Kriege - und gleichzeitig werden sie benutzt, um deren Folgen zu mildern, indem sie die Verletzungen vergessen machen sollen

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 7 Min.

Moderne Kriege sind ohne Opiate nicht denkbar. Anfang des 19. Jahrhunderts lieferten erste Morphinderivate sowie die Einführung der Nadel für subkutane Injektionen hierfür die Voraussetzungen. Diesen Erfindungen folgten prompt die blutigsten Kriege der Geschichte, von der Taiping-Rebellion in China über den US-Bürgerkrieg bis zum Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit sprach man auch erstmals von der »Soldatenkrankheit«, gemeint war die vermehrt auftretende Morphiumsucht bei Soldaten.

Auf keinen Krieg traf diese zentrale Rolle der Opiate mehr zu als auf jenen in Afghanistan im 21. Jahrhundert. Opiate bringen Arbeitsplätze für Afghanen, die US-Amerikaner und ihre Verbündeten sind die Abnehmer. Es war ein Krieg von »smarten« Bomben und »smarten« Drogen. Die aus Mohn gewonnen Opiate gelten als smart, weil sie blitzschnell an strategische Rezeptoren andocken. Opiate können Schmerzen verschwinden lassen und tasten dabei die intellektuellen und motorischen Fähigkeiten nicht an. Das Gehirn setzt körpereigene Opiate ein, um beim Auftreten großer Schmerzen oder Panik einen Zustand der Euphorie hervorzurufen. Von außen zugeführte Opiate ermöglichen lediglich, diese natürliche Reaktion in einen mehr oder weniger permanenten Zustand zu überführen: eine Form der Dauerkriegsbereitschaft.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Zu Beginn des letzten Afghanistankrieges war es die britische Regierung, die die kommenden Opiumernten am meisten fürchtete. Denn schon damals kamen 90 Prozent des in Großbritannien konsumierten Heroins aus Afghanistan. Während die Briten dafür plädierten, die Produktion stark zu bekämpfen, verfolgten die USA eine Laissez-Faire-Politik. Sie unterstützten paschtunische Kämpfer in den Wüstenregionen, wo das Opium geerntet wird.

Die US-Amerikaner dachten vielleicht, dass sie etwas Besseres als Opium oder Heroin hätten: nämlich von der Firma Purdue produzierte semisynthetische Opiate, vertrieben unter dem Namen Oxycontin. Die Zeitschrift »Newsweek« zitierte aus Purdue-Dokumenten, die die Partnerschaft der Firma mit der US-Behörde für Veteranen im Jahr 2001 beschreiben: Just im Jahr, als der Krieg mit Afghanistan begann, sollte eine aggressive Schmerzbekämpfung unter den Ärzten und Soldaten befördert werden.

Die US-Militärärzte wiederum dachten wohl, dass sie pragmatisch handelten, als sie verletzte Soldaten aus Afghanistan mit Opiaten wie Oxycontin behandelten. Sie waren überzeugt, dass sich solch potente Schmerzmittel auch für ambulant behandelte Patienten eigneten. Die Firma Purdue lancierte parallel eine Kampagne mit der Aussage, dass man Schmerz wie eine Krankheit bekämpfen müsse. Doch heute behaupten die Wissenschaftler Resul Cesu, Joseph Sabia und W. David Bradford, dass es dieser hemmungslose Einsatz des Schmerzmittels bei den heimkehrenden US-Soldaten war, der die generelle Opioid-Krise in den USA hervorrief. Diese Wissenschaftler bezeichnen die Veteranen als »Ground Zero«, als Epizentrum der Krise.

In Afghanistan wie in Vietnam hatten US-Soldaten leichten Zugang zu billigen Opiaten wie Heroin. Der Unterschied war jedoch, dass die Soldaten in Vietnam nur zu einjähriger Wehrzeit verpflichtet wurden, exakt ein Jahr später nach Hause gingen - wo Opiate nicht mehr so einfach verfügbar waren.

Nach Afghanistan und in den Irak hingegen gingen Berufssoldaten, die oft mehrmals im Einsatz waren: 2,8 Millionen US-Soldaten waren an 5,4 Millionen Einsätzen beteiligt. In Afghanistan waren 775 000 US-Soldaten in rund 1,5 Millionen Einsätzen. Wenn sie nach Hause kamen, litten 45 Prozent von ihnen nach Verletzungen unter chronischen Schmerzen. Und dieses Mal kam es nach der Heimkehr nicht zur Enthaltsamkeit, weil die Ärzte semisynthetische Opiate wie Oxycontin verschrieben. Für US-Veteranen aus Afghanistan und dem Irak ist die Wahrscheinlichkeit, durch eine Opiat-Überdosis zu sterben, doppelt so hoch wie in der Restbevölkerung. Und sie sind siebenmal gefährdeter, süchtig zu werden.

Die Feldmedizin in Afghanistan tat alles, um das Überleben der Soldaten zu ermöglichen. Es war aber zu oft ein Überleben mit dem Verlust mehrerer Gliedmaßen. Die Verletzungen lieferten den Grund für die Behandlung - und die Behandlung war der »Königsweg« zur Sucht. Die Berufssoldaten vertraten zudem das Berufsethos, dass man sich nicht beklagen und sich nicht wegen einer Sucht in Behandlung begeben solle. Die Armee honorierte das, indem sie die Pillenvergabe sehr lax überwachte. Aus den Wohnzentren der Militärs wie Fort Bragg in North Carolina fanden dann große Mengen von Pillen ihren Weg ins Umland. In den ersten 16 Jahren des Millenniums wuchs die Zahl der Todesfälle wegen Opiat-Überdosierungen - von Oxycontin über Heroin bis zu Fentanyl - um 500 Prozent.

Heute leiden fast drei Millionen Amerikaner an Opiat-Missbrauch, heißt es in der Statistik der Substance Abuse and Mental Health Service Administration. Denn in der Realität sind die Unterschiede zwischen Oxycontin und Heroin fließend. Als die US-Militärärzte ab 2012 das Pillenverschreiben stärker zu kontrollieren versuchten, griffen die Süchtigen unter den Veteranen zu Alternativen. Und Zivilisten taten das ebenso. Wer keine Pillen mehr von seinem Arzt bekam, wechselte zum immer billiger werdenden Heroin oder zu noch billigerem und tödlicherem Ersatz wie dem semisynthetischen Fentanyl.

Wahrscheinlich trug auch die Opioid-Krise, von Donald Trump auf nationaler Ebene thematisiert, zur Unlust der Amerikaner bei, sich weiter in Afghanistan zu engagieren. Der Krieg für den Schutz des Heimatlandes nach 9/11 hat in den Augen der Amerikaner zu viel Leid an der Heimatfront produziert.

So gesehen spielt das billige Heroin aus Afghanistan eine der Hauptrollen im Krieg. Tatsächlich ist Mohn selbst der Krieger unter den Pflanzen. Er gedeiht im Gegensatz zur Weintraube auch in Dürreperioden. Im Krieg vernachlässigten die Bauern die Weinstöcke, weil die Trauben nur einen Bruchteil dessen einbringen, was man mit der Ernte auch nur kleiner Mengen Opium verdienen kann. Heute produziert Afghanistan weltweit rund 85 Prozent des Opiums.

In den »Bekenntnissen eines englischen Opiumessers« beschrieb der Schriftsteller Thomas de Quincey 1821 das Gefühl der Ordnung, das die Droge ihren Nutzern verschafft. Eine Ordnung, die bald als eigenständige Körperfunktion wahrgenommen wird, die so natürlich wie die Atmung oder das Pulsieren des Blutes wirkt. »Während Wein die geistigen Fähigkeiten in Unordnung stürzt«, schrieb de Quincey, »sorgt das Opium vielmehr dafür, dass unter ihnen eine höchst exquisite Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Harmonie einkehrt.«

In einem medizinischen Lehrbuch, das wenige Jahre nach Ende des US-Bürgerkrieges im Jahr 1868 verfasst wurde, wird Opium als eine Art Hilfsmittel beschrieben, um ein besseres Kampfprinzip, gar einen neuen Menschen realisieren zu können. Schließlich behauptete die Firma Bayer, mit ihrem neuen Produkt Heroin (der Begriff leitet sich von Heros - Held ab) eine potentere Form des Morphiums für den »heroischen« Menschen der Zukunft entwickelt zu haben. Im Jahr 1916 wurde Oxycodon an der Universität Frankfurt entwickelt. Purdue nannte dieses Mittel in Oxycontin um. Inzwischen ist Purdue insolvent, nachdem die Firma im Jahr 2020 als eine Konsequenz der Opioid-Krise rund acht Milliarden Dollar an die Opfer bezahlen musste.

Morphinsüchtige betrachten die Welt apathisch und distanziert. Schon der Romantiker de Quincey hat davor gewarnt, dass sich die Sucht vielmehr im kontinuierlichen Wunsch manifestiert, Schmerzen zu vermeiden. De Quincey beschrieb seinen Blick auf die Stadt Liverpool so: »In einer Sommernacht am offenen Fenster im Zimmer saß ich, von dem aus ich die See eine Meile unter mir sowie die große Stadt Liverpool sehen konnte. Die Stadt repräsentierte die Erde, die ihre Sorgen und Nöte hinter sich gelassen, dennoch aber nicht aus dem Blick verloren oder vergessen wurde.« So schaut die westliche Welt in etwa auf Kabul heute. De Quinceys Blick scheint die modernen Fotos vorwegzunehmen, die von unbemannten Drohnen geschossen werden. Am Boden sollen die eigenen Verluste minimiert werden.

In Peshawar und Quetta, wo ein Gramm Heroin kaum etwas kostet, können es auch die Ärmsten unter den Abhängigen, mit der synthetischen Droge Mandrax und Haschisch vermischt, konsumieren. Das Ergebnis ist unter dem Namen »Muffara« bekannt. Unter seinem Einfluss behaupten Männer, nichts mehr zu fühlen. Sie sagen, sie seien angeschossen worden, ohne es bemerkt zu haben.

»Das Opium lehrt nur eines, nämlich dass, abgesehen vom physischen Schmerz, nichts real ist« schrieb André Malraux. In einer morphinistischen Welt scheint vielmehr die verdeckte Intoleranz gegenüber dem Schmerz real zu sein und der Wille, ihn zu vermeiden. Der Westen beendet seinen Krieg in Afghanistan - und müsste sich dabei die Details seines Beginns vergegenwärtigen und sich fragen: Aus welchem Grund wurde dieser Krieg geführt?

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