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Hoppla, sie leben!
Der neue Intendant René Pollesch eröffnet die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Die Volksbühne in Berlins Mitte ist umkämpftes Gebiet. So viel ist klar. Immerhin heißt das Theaterschlachtschiff nach vier Jahren Geschichtsleugnung nun wieder »am Rosa-Luxemburg-Platz« und wird auch so beworben.
Hier ist nicht der Platz, um die fast 130-jährige linke Historie der von sogenannten Arbeitergroschen errichteten Bühne ausreichend zu würdigen. Aber die Übernahme der künstlerischen Leitung des Theaters durch den Regisseur und Autor René Pollesch, die mit der Eröffnungspremiere von »Aufgang und Fall eines Vorhangs und das Leben dazwischen« am vergangenen Donnerstag ihren Anfang nahm, ist nur zu begreifen durch einen zumindest kursorischen Blick auf die drei Herren, die zuvor als Intendanten an dem Haus tätig waren, und auf das aktivistische Wirken am Rosa-Luxemburg-Platz in den letzten Jahren.
Pollesch nahm seine Arbeit an der Volksbühne, wo er sich seinen Ruf als einer der progressivsten Regisseure des Landes erarbeitete, bereits unter Frank Castorf auf. Castorf war gewissermaßen der letzte kritische Geist der DDR, weil ein Teil des Staates als Projektionsfläche bis 2017 an der Bühne seinen Fortbestand feierte. Aber auch über das Symbolische hinaus hat Castorf politische Haltung bewiesen – etwa, als es um die Jugoslawienkriege ging – und sie in seiner Theaterkunst nicht verschwiegen.
Dem kulturpolitischen Totalversagen der Berliner Sozialdemokratie ist der vom Publikum und Belegschaft des Theaters ungewollte Weggang Castorfs geschuldet. Die Nichtverlängerung seines Vertrags durch die Politik sollte auch das realitätsfremde Zeichen sein, dass man es besser wüsste. Die widerständigen Theatermacher am Haus sollten Platz machen für ein hippes, internationales Programm. Der vormalige Leiter der Tate Modern in London, Chris Dercon, der bereits verstanden hatte, die Kommerzialisierung der bildenden Kunst weiter voranzutreiben, hatte nun wohl Ähnliches mit dem Theater vor. Der Ausgang ist bekannt: Nach nicht einmal einer Spielzeit, nach einer Reihe schwerer und ein paar einfacher Fehler, nach künstlerisch unerheblichen Ergebnissen musste der Mann seinen Platz räumen.
Als vorübergehende Lösung sollte Klaus Dörr fungieren und ab April 2018 die Geschäfte führen, ein Mann, der auf die Zahlen blickt, ein Konsolidator, der Sorge trägt, dass in dem Haus sich wieder Kunst ereignet und Proteste sich möglichst gar nicht erst einnisten. In den Theaterkantinen – den Gerüchteküchen, wo wohl am heißesten gekocht wird – war schon länger die Rede von einem mehr als fragwürdigen Leitungsstil. Mit zahlreichen öffentlich gemachten #MeToo-Vorwürfen gegen Dörr und einem Rücktritt fast über Nacht hat auch dieses Kapitel im März 2021 ein vorzeitiges Ende genommen.
Spätestens seit der Besetzung der Volksbühne während Dercons Amtszeit im Herbst 2017 wird über Politik an diesem Haus wieder anders nachgedacht. Die vordergründige Forderung war der sofortige Rücktritt des belgischen Kurators, gekoppelt an Vorschläge für alternative Leitungsmechanismen an dem Theater. Der Name Volksbühne hat sich aber über das Kulturpublikum hinaus in diesen Tagen mit verschiedenen politischen Kämpfen in Berlin verbunden. Volksbühne sollte auch heißen: Bollwerk gegen die Gentrifizierung und gegen den Ausverkauf der Stadt.
Dass die Berliner Proteste gegen die Coronamaßnahmen – und der Kampf um ihre Deutung – wieder von diesem Ort, allerdings nur vom Theatervorplatz ausgehen, ist keineswegs so zufällig, wie man vermuten könnte. Aus dem Umfeld der Theaterbesetzer haben sich auch einige Aktivisten der sogenannten Hygienedemos entwickelt mit ihrer Protestzeitung »Demokratischer Widerstand«. Ein anderer Flügel der vormaligen Besetzer ist maßgeblich an den Gegendemonstrationen beteiligt. Und beide Fraktionen berufen sich auf Tradition und kritischen Geist an diesem besonderen Ort der Stadt. Daran wird überdeutlich, welche politischen Implikationen die Volksbühne mit sich herumträgt, aber auch, dass der ohnehin immer rechte Coronaleugner eine unterkomplexe Darstellung ist.
Jetzt also René Pollesch, der wohl avancierteste Vertreter eines Diskurstheaters linker Prägung. Er ist jemand, dem beides zuzutrauen ist: die politischen Kämpfe nicht zu ignorieren, mit seiner Kunst sogar einen reflektierenden Beitrag dazu zu leisten und dabei aber nicht die eigentliche Aufgabe zu vergessen und endlich wieder relevantes Theater zu produzieren. Vor dem Theater sind Zirkuszelte aufgebaut, symbolhaft für das Wesen der Volkskunst, mit »Love« und »Hate« beschriftete Bauwagen stehen vor dem Haus, Überbleibsel aus der Ära Castorf. Auf dem Dach des Theaters wehen rote Fahnen, ein Banner über dem Portal ist mit »Entrance« beschriftet, links und rechts davon ergibt sich die zusammengesetzte Botschaft »They Live«: Das Haus lebt wieder, damit die Kunst und die Menschen, die hier arbeiten.
Dass es auch an dem Eröffnungstag Proteste geben würde, war erwartet worden. Fast das Erscheinungsbild des Theaters spiegelnd, stand ein halbes Dutzend Demonstranten, ebenfalls mit roter Fahne und auch mit einem Banner mit der Aufschrift »Impft euch doch ins Knie« ausgestattet, vor dem Theater und verteilte Flugschriften. Der Protest führte zu Gegenprotest. Es wirkte fast wie inszeniert. Nach dem Versuch der Demonstranten, das Haus von außen zu verriegeln, rückte dann auch die Polizei an.
Das eigentliche Spektakel fand dann auf der gigantischen Bühne statt und dauerte knapp 90 Minuten. »Aufgang und Fall eines Vorhangs und das Leben dazwischen« ist – unverwechselbar Pollesch – und lässt vage die Themen erahnen, mit denen es das Publikum zu tun: ein Theaterstück über das Theater, über das Theater um die Volksbühne, die leise Frage, was Kunst noch beitragen kann.
Leonard Neumann ist für Kostüm- und Bühnenbild an diesem Abend verantwortlich. Der Sohn des verstorbenen Chefausstatters unter Castorf, Bert Neumann, gibt vielleicht bereits einen Hinweis, wohin es an diesem Haus gehen könnte: Kontinuität und gleichermaßen Verjüngung. Der titelgebende Vorhang in knalligem Orange hängt herab, um hoch- und runtergezogen und mechanisch zum Zirkuszelt geformt zu werden. Von artistischer Schönheit ist der Tanz des Vorhangs zu überlauter Musik. Was hier auf der Bühne vor sich geht, hat seinen Bezug zu dem, was sich vor dem Haus abspielt. Zirkus überall. »Das war das Heben des Vorhangs und das war das Fallen des Vorhangs und dazwischen sahen Sie etwas, das man normalerweise nicht sieht, dass das Ding ein Leben hat«, wird nicht ohne Pathos von der Bühne skandiert.
Die Volksbühnenveteranen Kathrin Angerer, Margarita Breitkreiz und Martin Wuttke beleben durch ihr Spiel das Spektakel, dazu gesellt sich die Schlingensief-Schauspielerin Susanne Bredehöft. Und ein weißes Kaninchen gibt seinen Anteil am Bühnenzauber dazu. Pollesch neigt dazu, sich in seinen materialreichen Texten Rundreisen durch Theorie und Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts vorzunehmen. Dieser Abend aber funktioniert anders. Der neue Intendant will zunächst aufräumen mit den schmerzhaften Vorgängen der letzten vier Jahre, mit der Zäsur durch kulturpolitische Luftnummern.
Das gesamte Sprechen auf der Bühne dreht sich um den Vorhang, den allgegenwärtigen Mitspieler. Nicht-Ereignisse auf der Bühne werden zum Thema. Und das alles wird nicht mit großem Tamtam und den maschinensalvenartig rausgeschossenen Texten, wie Pollesch sie noch vor einigen Jahren inszenierte, vorgetragen, sondern in größter Ruhe. Fast könnte man von einer Melancholie à la Christoph Marthaler sprechen, um einen weiteren Künstler zu nennen, der an dieser Bühne eine Lücke hinterlassen hat.
Wuttke spielt einen Schauspieler, der den alten Leo Tolstoi spielt. Ohne doppelte Schleifen kommt hier nichts über die Bühne. Wie steht es um die Theoriefähigkeit der Jungen?, will der Alte wissen. Was hat der jenseits seiner verstockten Sturheit noch zu bieten? Die Unmöglichkeit, sich überhaupt noch zu verständigen, findet sein Abbild und mündet in einer #MeToo-inspirierten Ohrfeigenserie. Angerer und Breitkreiz mimen die jugendlichen Revolutionäre.
Lenin sah in Tolstoi, diesem fortschrittlichen Geist, der gegen den zaristischen Wahnsinn agitierte und zugleich ein passiver Mystiker war, nicht den Vorläufer, sondern den Spiegel der Russischen Revolution. Wieder Spiegel der Verhältnisse zu werden, das könnte ein hochgestecktes Ziel dieser Volksbühne sein.
Wer mehr Extravaganz erwartet hat, ist fast schon selber schuld. Pollesch beginnt seine Intendanz nicht mit einem großen Knall, sondern mit ein paar leisen Gedanken. Ist das selbstbezüglich? Geschenkt. Doch ein paar Geheimnisse behält der Theaterabend bereit. Zum Beispiel die Frage, was hier passiert, wenn der Prolog vorbei, wenn der Vorhang endlich oben ist. Was erwartet das Publikum an diesem Haus? Die künstlerischen und politischen Erwartungen sind riesig. Anknüpfen an die selige Zeit unter Castorf soll man, aber auf keinen Fall bloße Epigonalität ausleben. Das sind kaum zu bewältigende Schwierigkeiten. Das Unterlaufen jeglicher Erwartungen als Spielprinzip dürfte kein schlechter Einstieg sein.
Nächste Vorstellungen: 25.9., 3. und 11.10.
www.volksbuehne.berlin
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