• Kultur
  • Politik und Klimawandel

Letztes Mittel der letzten Generation?

Gedanken zum Hungerstreik von Klimaaktivisten im Berliner Regierungsviertel

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.

Anfang September sind sieben junge Menschen in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Sie haben ein Camp im Berliner Regierungsviertel aufgeschlagen. Ihre Aktion nennen sie »Hungerstreik der letzten Generation«. Nachdem es in den ersten Tagen medial noch etwas ruhig war, ist die Aufmerksamkeit mit zunehmender zeitlicher Nähe der Bundestagswahlen deutlich gewachsen. Ihre ursprünglichen Forderungen lauteten: »1. Ein sofortiges Gespräch mit Ihnen, den drei Kanzlerkandidat*innen Herrn Laschet, Herrn Scholz und Frau Baerbock, über den Mord an der jungen Generation. 2. Das Versprechen von Ihnen, in einer neuen Regierung direkt einen Bürger*innenrat einzuberufen. In diesem sollten Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise, unter anderem eine 100% regenerative Landwirtschaft, besprochen werden.«

Der Hungerstreik ist eine extreme Form des passiven Widerstands. Das Eskalationsniveau ist von Beginn an sehr hoch, weil die Streikenden buchstäblich alles in die Waagschale legen: ihr Leben. Deshalb zieht jeder Hungerstreik automatisch Aufmerksamkeit auf sich. Der »Hungerstreik der letzten Generation« läuft jedoch anders als andere Hungerstreiks zuvor. Das stellt vor allem für die Aktivistinnen und Aktivisten ein Problem dar - und dies ist im Ablauf der konkreten Aktion angelegt.

Da sind zunächst die Protagonisten - zu Beginn sieben Menschen. Diese wollen aber nicht nur für sich als Individuen sprechen und handeln, sondern für eine ganze Generation, der »letzten«, wie es in der Selbstbenennung heißt. Nun ist die Wahl dieses radikalen Mittels des Hungerstreiks aber eine sehr individuelle (manchmal sogar einsame) Entscheidung. So, wie man keine Generation generell in Haftung nehmen kann, kann man ebenso als Individuum auch nicht eine Generation in Gänze vertreten oder für sie sprechen.

Ein Hungerstreik hat immer mindestens zwei Zielsetzungen: Zum einen die Erfüllung konkreter Forderungen; zum zweiten, vor- und übergeordnet, das Erregen von Aufmerksamkeit. Letzteres ist fast immer gesichert, auch in diesem Falle - wobei dies zunächst zum großen Teil am Mittel des Hungerstreiks selbst liegt. Medial und öffentlich ist der jetzige Streik präsent, sowohl durch Berichterstattung als auch Verbreitung durch Unterstützer. Bei der Aufmerksamkeit für das Thema selbst wird es aber bereits schwierig - das Thema »Gefahren und Auswirkungen des Klimawandels« ist gleichzeitig so präsent wie abstrakt, dass der Hungerstreik im Regierungsviertel darauf überhaupt kein weiteres Schlaglicht wirft. Die beiden konkreten Forderungen selbst sind dann in vielerlei Hinsicht schwierig: Man wirft sein Leben in die Waagschale - für ein »Gespräch über den Mord an der jungen Generation«? Die Hungerstreikenden haben vorher klargemacht, dass all das Reden nichts nutzt, sie den Worten und Ankündigungen nicht glauben und sie den vorherigen Generationen Mord vorwerfen. Und von den politischen Vertretern dieser Generationen fordern sie ultimativ ein Gespräch, in dem doch nichts weiter als genau jene für die Protagonisten unglaubwürdigen Worte und Ankündigungen wiederholt werden können? Im Sinne von: »Wir wollen mit euch reden, aber wir glauben euch sowieso nicht!«?

Die zweite Forderung zu den Bürgerräten ist ebenso schwierig. Die Protagonisten fordern ein »Versprechen«, »direkt einen Bürger*innenrat einzuberufen«. Dieses Versprechen kann und wird aus verschiedenen Gründen, allein aufgrund der parlamentarischen Demokratie, in diesem Land niemand der drei Kanzlerkandidaten glaubhaft erteilen - und wie glaubwürdig wäre es in den Ohren der Streikenden, würde es tatsächlich gegeben? Bei einem Hungerstreik müssen konkrete Forderungen ultimativ gestellt werden, die die Gegenseite nachprüfbar erfüllen kann, aber nicht erfüllen will. Diese Eigenschaften erfüllen die Forderungen nicht.

Ein Hungerstreik lebt auch davon, die öffentliche Meinung oder relevante Teile davon auf seine Seite zu ziehen. Dafür sind zwei Faktoren entscheidend. Zum einen ein »David gegen Goliath«-Szenario: Der oder die Streikende hat buchstäblich nichts anderes als den Körper gegen eine sehr mächtige bis potenziell allmächtige, dabei identifizierbare Person oder Institution. Es hilft, wenn deren Erscheinung oder Handeln als »unmenschlich« dargestellt oder bezeichnet werden kann. Diese Elemente finden sich zum Beispiel in Hungerstreiks gegen Haftbedingungen. Ein Hungerstreik ist dann im Grunde sinnlos oder öffentlich wirkungslos, wenn dem Streikenden objektiv oder/und auch in den Augen der Öffentlichkeit noch andere Mittel zur Verfügung stehen, die Forderungen durchzusetzen - dann wäre das Machtgefälle zu klein. Das andere Extrem wäre dann gegeben, wenn die Gegenseite so »unmenschlich« - sprich totalitär, willkürlich und nicht an Recht und Gesetz gebunden - agiert, dass ein Hungerstreik keinen Druck erzeugt, weil das Leben für sie überhaupt keinen Wert hat und die öffentliche Meinung irrelevant oder überhaupt nicht artikuliert vorhanden ist. Und dort, wo Hunger schon als politische Waffe eingesetzt wird und wurde, kann und konnte man ebenfalls nicht mit Hunger dagegen streiken.

Der »Hungerstreik der letzten Generation« weist keine Machtbalance zwischen den beiden Extremen auf. Die Streikenden befinden sich vielleicht in einer individuell empfundenen Zwangslage: objektiv sind sie nicht stärker in ihren Rechten und Freiheiten eingeschränkt als andere Bürger. Alle Handlungsmöglichkeiten stehen ihnen zumindest potenziell offen, wie jedem anderen auch - die Bewertung und Entscheidung darüber bleibt ihnen selbst überlassen. Es ist aber kein Machtgefälle zu konstatieren - gegenüber wem auch? Es gibt bei diesem Hungerstreik keine eindeutig identifizierbare »Gegenseite«: Einerseits werden die vorherigen Generationen pauschal des Mordes bezichtigt, einer besonders verwerflichen Form der vorsätzlichen Tötung. Aber Mörder sind immer konkrete Personen. Gleichzeitig sind die Vertreter dieser »Mörder-Generation« diejenigen, die die Probleme lösen sollen? Die Antagonisten hier, deren Vertreter die drei Kanzlerkandidaten sind, sind also gleichermaßen die politisch Schuldigen, sollen unter Druck gesetzt werden - und sind gleichzeitig die gesuchten Verbündeten für die Lösung eines Problems, das im konkreten Falle nicht genug spezifiziert ist. »Wir befinden uns im Hungerstreik, bis ein bestimmtes Unternehmen ein bestimmtes Kohlekraftwerk abschaltet«. Völlig unabhängig von der inhaltlichen Bewertung der Forderung - so etwas käme den oben genannten Faktoren viel näher.

Gegen »die Politik« oder »gegen die vorherigen Generationen« lässt sich nicht streiken, schon gar nicht mit einem Hungerstreik. Bisher ist niemand der drei Kanzlerkandidaten auf die Forderungen der Hungerstreikenden eingegangen, es ist anzunehmen und vor allem aufgrund der gesundheitlichen Situation der verbliebenen Streikenden zu hoffen, dass die Aktion so schnell wie möglich beendet wird. Ungeachtet der Tatsache, dass es dringend sinnvoller Konzepte und daraus resultierende Maßnahmen für den Klimaschutz bedarf.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!