In die Berge bringt mich dann ...

Wanderung auf den Spuren der italienischen Resistenza

  • Mathias Nehls
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war der 8. September 1943, an dem Italien einen Waffenstillstand mit den alliierten Mächten schloss. Die deutsche Wehrmacht, die vorab schon etliche militärische Einheiten nach Italien verbrachte, besetzte daraufhin Nord- und Mittelitalien einschließlich der Hauptstadt Rom. Militärangehörige der italienischen Streitkräfte wurden festgesetzt und teilweise nach Deutschland deportiert. Der neuerlichen Einsetzung Mussolinis durch die Nazis folgte der Aufruf an die italienischen Soldaten, den Kampf wieder aufzunehmen - dem aber folgten nur wenige. Der Großteil von ihnen tauchte ab: in den Städten, bei Bekannten, in den Bergen. Ihre Verweigerung war die Geburtsstunde der Partisanenbewegung in Italien.

Seit mittlerweile 27 Jahren organisiert das Geschichtsinstitut Istoreco in Reggio Emilia die Sentieri Partigiani, eine Wanderung auf den Pfaden der Partisan*innen. Die Reise beginnt im Ostello, einem alten Klostergebäude mit üppigem Innenhof, das heute als Herberge genutzt wird. Aufkleber und Graffitis in der Stadt deuten auf das politische Erbe und die noch vorhandenen politischen Mehrheiten in der »roten« Reggio Emilia. Die geschichtsträchtige Stadt ist Start- und Endpunkt der fünftägigen Reise, die uns in die Berge führt.

Die Strada Statale 63

Italien war in den 40er Jahren von einem dünnen Netz aus Staatsstraßen durchzogen. Als einzige ausgebaute Straßen bildeten sie die wichtigen Versorgungswege der deutschen Truppen und waren ein bevorzugtes Angriffsziel der Partisan*innen. Die Strada Statale 63 schlängelt sich von der Po-Ebene in die Berge. Ab Mai 1944 kam es zu immer neuen Angriffen auf deutsche Konvois. Einer dieser Angriffe kostete 16 Partisan*innen das Leben. Dem politischen Erbe der Region um Reggiana Emilia ist es zu verdanken, dass der Gedenkstein für die getöteten Partisan*innen in Castelnuovo ne’ Monti nicht nur den Kampf der Gefallenen für die Freiheit, libertà, würdigt, sondern auch für giustizia sociale, soziale Gerechtigkeit, steht.

Der Brückensprenger Toni

Hoch oben auf dem Monte Ventasso befindet sich das Refugium Maria Magdalena. Eine von der lokalen Bevölkerung unterhaltene Unterkunft in den Bergen, die noch heute für gemeinsame Feste genutzt wird. Die inzwischen bewaldete Gegend war während des Zweiten Weltkrieges nahezu kahl. Dennoch diente das Refugium auch Partisan*innen als Unterkunft, bot es doch einen guten Überblick über das weite Tal. Die Durchkämmungsaktionen der deutschen Wehrmacht konnten von hier aus früh entdeckt werden.

Einer Partisaneneinheit, die dort nächtigte, gehörte Fernando Cavazzini an, den alle nur Toni nannten. Er war Leiter einer kleinen Sabotagegruppe. Im Juli 1944 planten die Alliierten die Bombardierung einer nahe gelegenen Brücke. Die Partisan*innen lehnten die Aktion ab, weil durch den Angriff auch in der Nähe wohnende Zivilist*innen hätten sterben können. Toni bat darum, die Brücken nicht zu bombardieren, sondern ihn und sein Team mit der Sprengung zu beauftragen. In zwei Nächten legten sie die Sprengsätze mit Zündung. Die Sprengung erfolgte innerhalb von 15 Minuten, niemand wurde verletzt. Der Nachschubweg aber war zumindest für kurze Zeit nicht passierbar. Nach dem Krieg begann Toni eine Lehre als Maurer, gründete eine Baugenossenschaft und konstruierte unter anderem Brücken in der Region.

Das Massaker von Bettola

Liliane del Monte war noch ein Kind, als der Krieg ausbrach. Sie verstand dessen Bedeutung nicht, obwohl auch sie an der Staatsstraße 63 wohnte, auf der die Konvois der Nazis vorbeifuhren.

Das änderte sich in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1944. Vor der Tür des Gasthofs, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, kam es zu einem Feuergefecht zwischen Partisan*innen und einer deutschen Polizeieinheit. Ein Deutscher konnte verletzt entkommen. Er erreichte das nächste deutsche Quartier und benachrichtigte dort weitere Einheiten, die bald zurückkamen. Sie nahmen sich das Haus von Lilis Großeltern vor, traten die Tür ein und stellten alle Bewohner*innen an die Wand. Die Elfjährige konnte sich unter dem Bett verstecken. Ein deutscher Soldat schoss auf das Bett, verletzte das Kind und tötete anschließend die Mutter und die Großeltern.

In dem Glauben, alle Bewohner*innen erschossen zu haben, zündeten die Nazis das Haus an. Lili schaffte es jedoch, über das Fenster in Richtung des Flussbettes zu fliehen, und blieb dort mehrere Stunden erschöpft liegen. Plötzlich tauchte ein Stiefel neben ihrem Gesicht auf. Es war ein deutscher Soldat. Er hob sie vorsichtig auf und legte sie neben den Straßenrand.

Lili sagt heute, dass er sie wahrscheinlich retten wollte. Denn bald nachdem die Deutschen abgezogen waren, tauchten die ersten Italiener*innen aus den umliegenden Dörfern auf. Sie fanden das Kind und brachten es ins Krankenhaus. Lili überlebte die Vergeltungstat, ihre Familie und 32 andere Menschen nicht.

Eine Städtefreundschaft mit Berlin-Treptow

Um dazu beizutragen, den bereits verlorenen Krieg schneller zu beenden, nahmen die fünf Wehrmachtssoldaten Hans Schmidt, der in Berlin-Treptow zu Hause war, Erwin Bucher, Martin Koch, Erwin Schlünder und Karl-Heinz Schreyer Kontakt zu einer Partisaneneinheit auf. Über Monate trafen sie sich heimlich. Als Vertrauensbeweis brachten die Deutschen Waffen mit und lieferten Informationen über die lokale Struktur ihrer Einheiten.

Der große Coup war für den 26. August 1944 geplant. Hans Schmidt und die vier anderen ließen sich für die Wache einteilen - die Partisan*innen sollten den Stützpunkt in Albinea kampflos übernehmen können. Leider wurde die Aktion von einem britischen Luftangriff und dem Verrat eines Eingeweihten vereitelt. Die fünf Deserteure wurden hingerichtet, verscharrt und über die Jahrzehnte fast vergessen.

Bis 1990 nach dem Fall der Mauer die Familie von Hans Schmidt nach Albinea reiste, um herauszufinden, was damals mit dem Ehemann und Vater wirklich passiert ist. Endlich bekam die Familie Gewissheit, und den fünf Antifaschisten wurde eine späte Würdigung für ihr heldenhaftes Handeln zuteil: Es entstand nicht nur ein Gedenkort, sondern es war der Beginn einer Freundschaft zwischen Albinea und Berlin-Treptow.

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»Wir bewahren das Erbe des Widerstands in der Reggio Emilia«
Gespräch zur politischen Bildungsarbeit des Geschichtsinstituts Istoreco

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