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»Walter, dein Applaus, alter Junge!«
Bei der nd-Herbstwanderung wird an Walter Grenzebach erinnert, der die Lesertour in den Wirren der Wende rettete
»Hat jemand in der Richard-Sorge-Straße den Zettel mit den Buchstaben WG gesehen?«, fragt nd-Verlagsmitarbeiter Rainer Genge am Ziel die Teilnehmer der Leserwanderung. Das Kürzel WG steht für Walter Grenzebach, den Mann mit der roten Latzhose, der jahrzehntelang Werbung vom ganz alten Schlag für die Tageszeitung machte und im Juli 2020 im Alter von 77 Jahren gestorben ist. Da wo der Zettel hing, hinter der Friedhofsmauer, befindet sich sein Grab.
Genge erzählt, dass es die nd-Wanderung ohne Walter Grenzebach nicht mehr geben würde. Er hat sie über die Wirren der Wende gerettet und das Kunststück fertiggebracht, dass sie lange nicht weniger Teilnehmer zählte, obwohl die Auflage der Zeitung seinerzeit dramatisch einbrach. Die Zuhörer klatschen. Rainer Genge besinnt sich kurz, schaut zum Himmel und sagt: »Walter, dein Applaus, alter Junge!«
Seit 1969 gibt es die nd-Leserwanderung. Am 19. September führt die jüngste Ausgabe vom Berliner Sport- und Erholungszentrum (SEZ) durch den Volkspark Friedrichshain zum nd-Verlagshaus am Franz-Mehring-Platz. 178 Startkarten werden dabei ausgegeben. Unterwegs gibt es fünf Quizfragen zu beantworten. Wer alles richtig gemacht hat, bekommt bei der Verlosung am Ziel die Chance, ein Fahrrad zu gewinnen. Leser Wolfgang Frotscher aus Frankfurt (Oder) gehört zu denen, die schon genau wissen, was sie mit dem Fahrrad machen würden. »Das geht dann direkt nach Kuba«, sagt der Rentner, der sich in der Hilfsorganisation Cuba Sí für die Solidarität mit der Karibikinsel einsetzt. Doch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), die wieder einmal Glücksfee spielt, zieht die Startkarte von Bruno Nevyhosteny aus Baruth/Mark. Er gewinnt damit das gelb lackierte Rad. Die roten Drahtesel waren ausverkauft, entschuldigt Verlagsmitarbeiter Genge die Farbauswahl.
Genge organisiert die Wanderung schon seit einigen Jahren. Erstmals hat er sich dazu auch die Quizfragen ausgedacht, die Strecke geplant und am Vorabend mit Richtungshinweisen markiert. Das hat so lange gedauert, dass es am Schluss bereits dunkel war. Genge rechnete sich aus, dass es nicht mehr lohnte, nun noch nach Hause ins Havelland zu fahren und in aller Herrgottsfrühe wieder aufzubrechen, um rechtzeitig am Start der Wanderung zu sein. Also übernachtete er auf dem Parkplatz vor dem »nd« in seinem Wohnmobil. Für die Streckenauswahl erhält Genge Applaus. Es ist zwar nur eine Stadtwanderung, aber der Volkspark Friedrichshain ist immerhin eine der schönsten Grünflächen der Stadt.
Zum Ziel sind nicht nur jene gekommen, die wahlweise sechs oder zwölf Kilometer gewandert sind, sondern auch andere. Sie hören dort, was Petra Pau und ihre Fraktionskollegin Gesine Lötzsch exakt eine Woche vor der Bundestagswahl am 26. September zu sagen haben. Pau liest aus ihrem neuen Buch »Gott hab sie selig« und wirbt eindringlich dafür, der Linkspartei in ihrem Wahlkreis in Marzahn-Hellersdorf, aber auch überall sonst die Erst- und die Zweitstimme zu geben. Sie hat es mit Ex-Sozialsenator Mario Czaja (CDU) zu tun. Der behaupte geschickt, so Pau, es wäre doch schön, wenn der Wahlkreis mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertreten wäre. Da Petra Pau mit Listenplatz eins abgesichert sei, solle man ihm (Czaja) die Erststimme gönnen, damit er den Wahlkreis gewinne. So wolle Czaja Anhänger der Linkspartei ködern.
Den Wahlkreis holte von 1990 bis 1998 Gregor Gysi, ab 2002 gelang das Petra Pau. Aber es gibt keinen Automatismus, dass die Sozialisten hier siegen. Sie müssen um jede Stimme kämpfen - und das tut Petra Pau. Sie erinnert daran, dass sich die Partei mit drei gewonnenen Wahlkreisen retten könnte, falls sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht meistern sollte. Die Abgeordnete Gesine Lötzsch ist derweil zuversichtlich, ihren Wahlkreis Berlin-Lichtenberg auch diesmal zu holen. Bei der nächsten nd-Wanderung am 24. April 2022 möchten Pau und Lötzsch wieder dabei sein - als Bundestagsabgeordnete! Und damit das »nd« weiterhin erscheint, zeichnet Gesine Lötzsch einen Anteil an der Genossenschaft, die diese Zeitung ab Januar herausgeben soll.
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