Ein bewegter Bürger

Zum Tod des Bürgerrechtlers und Wendeaktivisten Reinhard Schult

Herbst 1989, Frühjahr 1990: Die wenigen Wendemonate kurz vorm Ende der DDR waren die wohl intensivsten im Leben des Reinhard Schult. Für Leute wie ihn schien ein Traum in Erfüllung zu gehen: Die führende Rolle der SED war gebrochen, die Macht lag auf der Straße, alles schien möglich zu sein. Schult hatte schon seit Langem gegen Bevormundung und ideologische Enge aufbegehrt, gegen die Wehrpflicht, war für Meinungsfreiheit eingetreten und das, was man später Basisdemokratie nennen sollte. Er war eine Ausnahmeerscheinung unter den Bürgerrechtlern: kein Studierter, sondern ein Arbeiter. Maurer und Heizer. Ein Kerl wie ein Baum. Abitur konnte er wegen seiner politischen Aktivitäten nur über den Umweg einer Berufsausbildung zum Baufacharbeiter machen, ein Theologiestudium brach er ab.

Schult arbeitete in Oppositionsgruppen mit, wollte erreichen, dass über gesellschaftliche Probleme offen gesprochen werden kann. Er wurde von der Staatssicherheit zu den »unbelehrbaren Feinden des Sozialismus« gezählt, landete im Gefängnis. Im Frühjahr 1989 gehörte er zu denen, die die Manipulation der DDR-Kommunalwahl anprangerten. Als die Malerin und Freundin Bärbel Bohley ihn fragte, ob er in der Gruppe »Neues Forum« mitmachen wolle, fragte er zunächst misstrauisch: »Wie viele Pfaffen sind dabei?« Er machte mit, voller Energie: erst illegal, dann bei den Verhandlungen am Zentralen Runden Tisch, bei der Besetzung der Stasizentrale, bei der Sicherung der Stasiakten für die Öffentlichkeit.

Als aus den DDR-Bürgerbewegungen das Bündnis 90 wurde, eine Partei, sträubte er sich. Er blieb bei den Resten des Neuen Forums, wollte nicht die Kompromisse, nicht die Mechanismen der Macht, nicht den Gang in die Institutionen. Er wollte radikale Opposition, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung. Schult gehörte zu den Bürgerrechtlern, die nach der deutschen Vereinigung nicht nur das Thema SED-Diktatur kannten. Er bewahrte sich einen kritischen Geist – gegenüber Kriegseinsätzen der Bundeswehr, der Agenda 2010, dem Hartz-IV-Regime. Am Sonnabend ist Reinhard Schult kurz nach seinem 70. Geburtstag gestorben.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -