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Kassandra wird abgesägt
Sachsens CDU muss Wahldebakel verdauen und findet in Marco Wanderwitz einen Sündenbock
Die AfD hat in Sachsen Verluste erlitten. Bei der Bundestagswahl am Sonntag erhielt sie knapp 63 000 Zweitstimmen weniger als vor vier Jahren und büßte 2,4 Prozentpunkte ein. Allerdings fielen die Verluste nicht ins Gewicht, weil gleichzeitig die sächsische CDU ein historisches Debakel erlebte. Bei der vorletzten Wahl hatte sie mit 42,6 Prozent noch mehr als doppelt so viele Wähler überzeugt wie die damals zweitplatzierte Linke. 2017 dann lag sie gut 4200 Stimmen und 0,1 Prozentpunkte hinter der AfD, was als Schmach empfunden wurde und im Abgang des Ministerpräsidenten mündete. Nun folgte der Absturz ins gefühlt Bodenlose: Die Union kam auf lediglich 17,2 Prozent und sah erstmals in Sachsen sogar die SPD an sich vorbeiziehen. Auf einem Foto vom Tag nach der Wahl sieht Ministerpräsident Michael Kretschmer aus, als sei er gerade im Boxring vermöbelt worden.
Die Niederlage ist vor allem deshalb dramatisch, weil die Schwäche der CDU auch mit dem Verlust fast aller Direktmandate einherging. Hatte sie 2013 noch alle 16 sächsischen Wahlkreise gewonnen, waren es 2017 immerhin noch zwölf, während drei in Ostsachsen an die AfD gingen und einer in Leipzig an die Linke. Nun ist schneller erzählt, welche Wahlkreise die CDU nicht verlor: Dresden I und II, Leipzig I und Vogtland. In den ländlichen Regionen, die man in Sachsens CDU bisher als das eigentliche Kernland ansah, feierte die AfD einen Durchmarsch und holte zehn Direktmandate.
Bei der Suche nach Schuldigen zeigt man im Freistaat zuerst nach Berlin. Die Spitzenkandidatur Armin Laschets sah man in dem sehr konservativen CDU-Landesverband als schweren Fehler an. Plakate mit seinem Konterfei wurden in abgelegenen Gewerbegebieten versteckt; zum Wahlkampfabschluss im Wahlkreis Görlitz, den Kretschmer schon 2017 an die AfD verloren hatte, wurde Friedrich Merz eingeflogen. Und nach der Pleite gehörte die sächsische Junge Union zu den ersten, die Laschets Rücktritt forderten. Auch Generalsekretär Alexander Dierks machte den Kandidaten und den schlechten Wahlkampf verantwortlich: Die CDU habe »speziell in Ostdeutschland nicht vermocht, mit ihrer Kampagne durchzudringen«. Konsequenzen auf Landesebene seien nicht nötig, fügte er in Anspielung auf einen etwaigen erneuten Rücktritt des Regierungschefs hinzu.
Allerdings suchten und fanden andere auch einen sächsischen Sündenbock in Gestalt von Marco Wanderwitz, bisher Ostbeauftragter der Bundesregierung und immerhin Spitzenkandidat der CDU im Freistaat. Er geriet in der Kritik, weil er als eine Art Kassandra auf die Anfälligkeit von Teilen der ostdeutschen Wählerschaft für rechtsextreme Parteien hingewiesen hatte. Man habe es »mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind«, hatte er gesagt.
Die Äußerung hatte für heftige Debatten gesorgt. In Teilen der CDU wurde sie als Gift im Wahlkampf empfunden. Zwar sagte Dierks noch am Montagmorgen, es gebe »keine Verantwortung eines einzelnen Kandidaten«. Doch nur Stunden später erklärte Kretschmer, der auch CDU-Landesvorsitzender ist und die Äußerungen von Wanderwitz im Wahlkampf zunächst nicht kommentiert hatte, diese seien »nicht hilfreich« gewesen. In einem Interview der »Leipziger Volkszeitung« fügte er an, Menschen hätten sich »von Herrn Wanderwitz stigmatisiert und angegriffen gefühlt«. Veronika Bellmann, die als eine Art politische Antipodin von Wanderwitz in der sächsischen CDU gelten kann und am Sonntag wie dieser ihren Wahlkreis verlor, machte für die Pleite neben dem »Abwärtsstrudel der Laschet-Union« auch die »als Beleidigung aller Ostdeutschen aufgefassten Äußerungen« von Wanderwitz verantwortlich.
Es folgte eine Entmachtung: Als Spitzenkandidat zog Wanderwitz zwar trotz des seit 2002 erstmals verlorenen Direktmandats im Chemnitzer Land in den Bundestag ein. Auf Intervention Kretschmers wurde aber nicht er zum Chef der auf sieben Mitglieder geschrumpften CDU-Landesgruppe gewählt, sondern Carsten Körber aus Zwickau. So muss ausgerechnet einer der entschiedensten AfD-Gegner in der CDU für deren Niederlage büßen. Sachsens DGB-Chef Markus Schlimbach zeigte sich daraufhin solidarisch: »Wanderwitz hat Recht!«, schrieb er auf Twitter. Es sei »wichtig, dass auch die CDU klare Kante« gegenüber der AfD zeige.
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