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Gericht stoppt Abschiebung in letzter Sekunde
Niedersächsisches Innenministerium und Landkreis wollten schwer kranke Frau nach Russland »zurückführen«
Frau Z. lebt seit 20 Jahren in Deutschland und ist schwer erkrankt. Der medizinische Dienst der JVA Hannover-Langenhagen, wo sie seit zehn Tagen in Abschiebehaft sitzt, hält sie für nicht reisefähig. Trotzdem will der niedersächsische Landkreis Peine sie nach Russland abschieben. Darüber informierte der niedersächsische Flüchtlingsrat am Donnerstag und übte zugleich heftige Kritik an der Behörde. Auch das Innenministerium in Hannover beharre auf der Abschiebung, mehrere Eingaben seiner Organisation seien zurückgewiesen worden, berichtet Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat.
Jetzt hat das Verwaltungsgericht Braunschweig die Abschiebung in letzter Sekunde gestoppt. Auf Intervention des vom Flüchtlingsrat eingeschalteten Rechtsanwalts Peter Fahlbusch setzte es die Abschiebung zunächst bis zum 10. November aus. Der Landkreis Peine erklärte auf nd-Anfrage, man habe in dem Fall alles richtig gemacht.
Laut Flüchtlingsrat leidet die Frau seit Jahren an »multiplen körperlichen sowie psychischen Erkrankungen, aufgrund derer sie sich immer wieder in ambulante und stationäre Behandlung« habe begeben müssen. Der Landkreis Peine spricht demgegenüber von Drogenabhängigkeit und Substitutionsbehandlung. Auf Antrag des Kreises, der einen entsprechenden Beschluss des Amtsgerichts Hannover erwirkte, wurde die Betroffene am 21. September in das zentrale niedersächsische Abschiebegefängnis Hannover-Langenhagen gebracht. Dessen medizinischer Dienst erklärte sie aufgrund ihrer Erkrankungen »mindestens bis zum 10.11.21« für nicht reisefähig. Zudem sei ihre zwingend erforderliche Anschlussbehandlung in Russland nicht gesichert. Der Landkreis bestand dennoch auf der Abschiebung. Die Behörde wie auch das vom Flüchtlingsrat eingeschaltete Innenministerium ignorierten nach Angaben von Öztürkyilmaz die Atteste. Sie hätten »rein formaljuristisch« argumentiert: Die ärztlichen Bescheinigungen der JVA genügten nicht den gesetzlichen Anforderungen, weshalb die Reiseunfähigkeit nicht belegt sei.
Dem widersprach jetzt das Verwaltungsgericht Braunschweig. In seinem Beschluss vom Dienstag (Az. 4 B 301/21) heißt es: »Die mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten deutschen Behörden haben in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten und gegebenenfalls die nötigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann.« Unmittelbar nach der Gerichtsentscheidung wurde Frau Z. aus der Abschiebehaft entlassen.
Der Sprecher des Landkreises Peine, Fabian Laaß, sagte gegenüber »nd«, ein Antrag der Frau auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis sei rechtskräftig abgelehnt und sie mit Fristsetzung aufgefordert worden, Deutschland freiwillig zu verlassen. Weil sie dem nicht nachkam, sei die Abschiebung für den 28. September terminiert worden.
Mit Blick auf die Erkrankung der Frau erklärte Laaß, die Frau habe fast ein Jahr lang die Gelegenheit gehabt, geeignete Atteste zum Beleg ihres schlechten Gesundheitszustandes zu liefern. Eine eventuelle Reiseunfähigkeit hätte sie durch fachärztliche Bescheinigungen unverzüglich belegen müssen, so der Sprecher. Das sei aber nicht erfolgt. Bei der Aufnahme in der JVA Hannover-Langenhagen habe der Arzt den schlechten Gesundheitszustand der Frau auf die laufende Substitutionsbehandlung zurückgeführt. Dies sei jedoch »allerhöchstens ein zielstaatsbezogenes Problem«, meint Laaß. Der Landkreis habe gegen den medizinischen Bescheid aus der JVA Widerspruch eingelegt, das Innenministerium habe die Auffassung der zuständigen Behörde geteilt, daher habe man am Vorhaben der Rückführung festgehalten.
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Am Beschluss des Verwaltungsgerichts kritisiert Laaß, »die Substitution« stelle »keinen Grund für eine Reiseunfähigkeit« dar. Aus Sicht des Landkreises jedenfalls sei in dem Fall »alles korrekt abgelaufen«. Die Frau werde aufgrund des Richterspruchs nun mindestens bis zum 10. November im Land geduldet.
Nach Ansicht des Flüchtlingsrates muss sich die Landesregierung »fragen lassen, ob die vom ärztlichen Dienst der Justizvollzugsanstalt erstellten Atteste überhaupt noch einen Wert haben, wenn sich Behörden und Ministerien nicht daran gebunden fühlen«. Die Gerichtsentscheidung sei eine »schallende Ohrfeige für den Landkreis und das Innenministerium«. Eine Sprecherin des Ministeriums erklärte auf nd-Anfrage, vor einer inhaltlichen Stellungnahme in der Sache müsse zunächst der Gerichtsbeschluss ausgewertet werden.
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