Keine Stimme für niemand

Über 14 Millionen Wahlberechtigte haben sich nicht an der Bundestagswahl beteiligt – es waren wohl wieder vor allem Ärmere. Für den Forscher Butterwegge ist das nur eine von mehreren Krisenerscheinungen der Demokratie

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn am Wochenende SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU sondieren, ob sie sich auf gemeinsame Projekte im Klimaschutz, bei Investitionen oder der Sozialpolitik verständigen können, steht eins schon fest: Viele Menschen werden von keiner dieser Partei repräsentiert. 8,7 Millionen Erwachsene durften am Sonntag nicht mitbestimmen, wer in den Bundestag einzieht, weil sie keinen deutschen Pass haben. Andere durften wählen, haben sich aber entschieden, es nicht zu tun: 14,3 Millionen Wahlberechtigte gaben keiner Partei ihre Stimme. Gemessen an der Stärke der Parteien ist das die größte Gruppe unter den Wahlberechtigten, gefolgt von knapp zwölf Millionen Menschen, die für die SPD gestimmt haben.

Vor allem ärmere Menschen wählen nicht. Das ist für den Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge »verheerend für die Demokratie« – und nicht die einzige Krisenerscheinung des parlamentarischen Systems.

Das Problem sei nicht, dass sich gut 23 Prozent der Wahlberechtigten der Stimme enthalten haben, sagt der Kölner Politikwissenschaftler dem »nd«. Das Problem sei vielmehr, dass sich die Wahlbeteiligung nach Klassen und Schichten sortiert: Ärmere, Arbeitslose und Prekarisierte wählen seltener, Reichere öfter. »Sinn der parlamentarischen Demokratie ist, dass alle Bevölkerungsschichten repräsentiert sind. Doch genau das ist längst nicht mehr der Fall.«

Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Wahlbeteiligung

Tatsächlich zeigen Studien aus den vergangenen Jahren, dass die Wahlbeteiligung in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Einkommensniveau oft deutlich geringer ist als in wohlhabenden Regionen. Erste aktuelle Analysen deuten darauf hin, dass sich daran bei der jüngsten Bundestagswahl nichts geändert hat. So hat der Politikwissenschaftler Armin Schäfer Daten für Nordrhein-Westfalen veröffentlicht, nach denen die Regel gilt: Je höher die Arbeitslosigkeit in einer Region, desto geringer die Wahlbeteiligung. »Es gilt weiterhin: Je ärmer, desto niedriger die WBT«, schreibt der Professor an der Uni in Münster auf Twitter.

Viele Arbeitslose, Arme und sozial Abgehängte hätten das Gefühl, dass sie politisch keine Einflussmöglichkeit haben, so Butterwegge. Dieses Gefühl basiere auf der sozioökonomischen Lage der Menschen. So müssten Millionen Menschen mit extrem niedrigen Hartz-IV-Sätzen oder geringen Gehältern auskommen – jeder fünfte Beschäftigte arbeitete zuletzt für einen Niedriglohn von weniger als 11,50 Euro brutto pro Stunde. »Anderseits steigen die Mieten sowie Energie- und Lebensmittelpreise«, betont der Forscher. »Die Menschen werden sozial ausgegrenzt und verweigern darum den Repräsentanten dieses politischen Systems ihre Zustimmung.«

Bundestag orientiert sich eher an Bessergestellten

Auch empirische Studien kommen zu dem Schluss, dass sich der Bundestag eher an Wünschen der Bessergestellten orientiert. So haben die Forschenden Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer für die Zeit von 1980 bis 2015 untersucht, wer welchen Einfluss auf politische Entscheidungen hatte. Dafür schauten sie nach, welche Reformen Bessergestellte und Schlechtergestellte in Umfragen befürworten. Anschließend verglichen sie die Präferenzen mit den Beschlüssen des Parlaments. Dabei zeigte sich, dass »der Bundestag viel häufiger Entscheidungen getroffen hat, die mit den Wünschen derjenigen übereinstimmen, die ein höheres Einkommen haben, ein höheres Bildungsniveau oder mit Berufsgruppen mit höherem sozialem Status«, so Schäfer im vorigen Jahr.

Familienunternehmer oder Oligarch?

Dass Menschen in prekärer Lage sozial ausgegrenzt und politisch oft nicht gehört werden, ist für Butterwegge nur eine von mehreren Krisenerscheinungen des parlamentarischen Repräsentativsystems. Hinzu komme, dass sich insbesondere das Vermögen bei wenigen Menschen konzentriert. So verfügt 0,1 Prozent der Bevölkerung über rund 20 Prozent des Nettovermögens. Das ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. »Wer so reich ist, ist auch politisch einflussreich«, sagt Butterwegge. Er nennt als Beispiel Großunternehmer, »die hierzulande den Kosenamen Familienunternehmer tragen. In Ländern wie Griechenland bezeichnet man vergleichbare Firmenbesitzer als Oligarchen.«

Die Erbschaftssteuer, die Verfassung und die Lobbyisten

Ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Lobbypolitik dieser Gruppe ist für den Forscher die Einflussnahme bei der Erbschaftsteuer: 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Erbschaftssteuergesetz für verfassungswidrig: Die Privilegierung betrieblichen Vermögens von größeren Unternehmen sei unverhältnismäßig. Das müsse geändert werden. Während des Reformprozesses lobbyierte insbesondere die Stiftung Familienunternehmen für ihre Klientel, sie ließ Gutachten erstellen und traf sich mit Politikern. Auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Lisa Paus listete die Bundesregierung neun Treffen der Stiftung mit hochrangigen Regierungsmitgliedern auf: Mal war die Kanzlerin auf dem »Tag des deutschen Familienunternehmens«, mal gab es Gespräche mit Ministern und Staatssekretären.

Die Reform verzögerte sich immer mehr, bis die Frist, die das Verfassungsgericht gesetzt hatte, überschritten wurde. Erst als das Gericht erklärte, notfalls selbst einzugreifen, wurde das Gesetz geändert. Die »Familienunternehmen« konnten zufrieden sein: Die »übermäßige Privilegierung des Betriebsvermögens« bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer werde »im Ergebnis (fast) vollständig beibehalten«, bilanzierten die beiden Ökonomen Achim Truger und Birger Scholz 2016.

Eine dritte Krisenerscheinung der Demokratie ist für Butterwegge, dass in der Mittelschicht die Angst vor sozialem Abstieg grassiert und sich Personen aus dieser Gruppe daher der teils rechtsextremen AfD zuwenden.

Die Mindestlohnfrage

Die Politik könne die Demokratie stabilisieren, wenn sie wolle, und die soziale Sicherheit von Prekarisierten und Menschen aus der Mittelschicht stärken, betont der Forscher, der 2017 auf Vorschlag der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert hatte. So könnte sie auch dazu beitragen, dass wieder mehr arme Menschen wählen gehen. Für Butterwegge gehört zu so einem Demokratiestärkungs-Programm eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, eine bedarfsgerechte und sanktionsfreie Grundsicherung und eine solidarische Bürgerversicherung. Ein inklusiver Sozialstaat würde nach seiner Ansicht dazu führen, dass auch Handwerker, Solo-Selbstständige und Freiberufler bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter abgesichert wären.

Zumindest einen höheren Mindestlohn von zwölf Euro hat SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Wahlkampf versprochen, dafür plädiert hat er bereits 2017. Wenn nun in den Verhandlungen mit der FDP herauskommen sollte, dass der Mindestlohn erst zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 auf zwölf Euro angehoben wird, wäre dieser Betrag wegen des Preisanstiegs deutlich weniger wert als 2017, betont Butterwegge: »Dann hätten Niedriglohn-Beschäftigte erneut das Gefühl, dass für sie so gut wie nichts getan wird.«

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