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I like Anna Pappritz
Die Historikerin Bianca Walthe beschäftigt sich intensiv mit Frauen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Darüber bloggt und twittert sie erfolgreich
Es gibt sie, die kleinen Sternstunden für Historiker*innen. Bianca Walther erlebt eigentlich gleich zwei, als sie vor zwei Jahren im Bundesarchiv das indische Reisetagebuch von Anna Pappritz findet, verborgen im Nachlass der Politikerin Marie-Elisabeth Lüders. Endlich schließt sich eine Lücke im Lebenslauf der Frau, die Bianca Walther so gründlich wie möglich kennenlernen will - so gut das eben mit einer historischen Figur geht. Endlich kann Walther nachlesen, was die Frauenrechtlerin Anna Pappritz von November 1912 bis Februar 1913 in Indien tat, wie sie reiste, was sie aß, was sie dachte.
Ein Detail versüßte Walther den Fund noch mehr: Sie las in der maschinengetippten Abschrift den Spitznamen, den Pappritz ihrer Liebsten Margarete Friedenthal gegeben hatte: »Lemur«. Dass das einen Feuchtnasenaffen bezeichnet, darum ging es gar nicht. Doch bislang war der Kosename nur in Pappritz’ Handschrift überliefert worden, und die hatte - Zitat »eine ganz schöne Sauklaue«. Nicht nur Walther, auch andere, die sich mit Anna Pappritz beschäftigten, hatten hier stets »Lemm« entziffert - und gerätselt, was das eigentlich heißen solle. Nun war das Geheimnis enthüllt! »Für andere ist das vielleicht nicht viel, aber für mich war das ein tolles Erlebnis«, erinnert sich Walther.
Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich vor allem mit der Geschichte von bürgerlichen Frauen aus der Zeit um die Wende ins 20. Jahrhundert: nicht immer, aber meist mit sich liebenden Frauen, die oft in der Frauenbewegung aktiv waren, Feministinnen, die sich engagierten, Grenzgängerinnen, Aktivistinnen. Die Berliner Frauenrechtlerin Anna Pappritz hat Bianca Walther zu einem eigenen Forschungsprojekt gemacht, hat das indische Tagebuch als historischen Reisebericht einer weißen, fernreisenden Frau editiert und herausgegeben.
Doch nicht nur das: Mit @PappritzOnTour twitterte Walther als ihre »Schreibkraft« im vergangenen Corona-Winter eine Auswahl von Zitaten aus ebendiesem Tagebuch. Viele Hundert Leser*innen begleiteten sie dabei. Besonders erfolgreich ist Walther aber derzeit mit ihrem Projekt »Frauen von damals«. Auf Twitter und Instagram postet sie Kurzbiografien zu spannenden Frauen aus der besagten Epoche, intensiv setzt sie sich im gleichnamigen Podcast mit ihnen auseinander.
Ob die bekannte schwedische Autorin Selma Lagerlöf, die umstrittene und bewunderte Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer oder die Juristin und Feministin Anita Augspurg: Alle werden von ihr liebevoll beschrieben, charakterisiert, ihre Besonderheiten und Leistungen den Hörer*innen vorgestellt. Dabei kommt Walther rasch in der Gegenwart an, zieht Vergleiche zu Figuren der Fernsehserie »Babylon Berlin« oder schickt die Ohren auf eine Kneipentour ins lesbische Berlin der 20er Jahre. In einem der damals bekannten einschlägigen Nachtclubs, dem Eldorado, sei heute ein Bioladen, erklärt sie in der Folge »Monokel-Ball im Monbijou«. Zusammen mit ihrer Frau und Welpe Pebbles lebt sie selbst nämlich gar nicht weit davon entfernt. Geboren in Andernach in Rheinland-Pfalz zog sie bereits 1999 in die deutsche Hauptstadt.
Historikerin im zweiten Anlauf
Zwölf Folgen plus eine Bonusfolge umfasst die erste Staffel. Eine weitere werde ab dem Herbst folgen, verspricht sie - dann sei aber Schluss. Denn das Recherchieren, Produzieren und Veröffentlichen mache ihr zwar viel Spaß, doch entstand das meiste 2020 in Pandemie-Zeiten, als der freiberuflichen Dolmetscherin die Aufträge von zahlreichen Fachkongressen wegbrachen. »Da dachte ich, wohin mit all den Wörtern?«
Dass Walthers Stimme so angenehm professionell am Mikrofon klingt, hat viel mit ihrer ersten Ausbildung zu tun, doch die historischen Kenntnisse verdankt sie ihrem zweiten Studium, das sie 2014 an der Fern-Universität Hagen abschloss. »Die Zeit von Kaiserreich und Weimarer Republik hat mich immer schon fasziniert«, sagt sie. Inmitten von Demokratisierung und Industrialisierung schritt auch das Leben der bürgerlichen Frauen voran: »Die Korsetts weg, die Röcke kürzer, die Haare ab.«
Walther machte ihren Master in Geschichte der Europäischen Moderne und arbeitet seit 2016 an ihrer Dissertation zur »Kulturgeschichte weiblicher Lebensgemeinschaften im Bürgertum um 1900«. Hier schaut sie sich die Entwicklung in Deutschland und Schweden an. Anna Pappritz ist natürlich eine der Protagonistinnen. Zwar dolmetscht Bianca Walther Englisch und Französisch, doch zumindest lesen könne sie Schwedisch mittlerweile auch, sagt sie bescheiden.
Die 47-Jährige ist gründlich und genau, wenn sie »ihren« Damen nachspürt. Sie liest viel und geht dann Quellen wie Archivsignaturen in Fußnoten nach. Fast schon Detektivinnenarbeit könnte man es nennen. »Es hat sich viel getan in den letzten zehn Jahren«, meint sie. Vieles sei heute digitalisiert. Die Geschichtsforschung sei auch nicht so getrieben von der Suche nach der Entdeckung, sondern von der jeweiligen Sichtweise geprägt, die der oder die Forschende einnehme. »Wie wir erzählen, macht die Geschichte aus.«
Insgesamt sei eher wenig Material von Frauen in Archiven gelandet, weil allgemein die Meinung vorherrschte, Frauen und ihr Handeln seien eben nicht so bedeutsam gewesen. Viele Dokumente seien zerstört worden, vor allem dann, wenn die betreffende Frau und ihr Lebensstil der Familie gar nicht so recht gewesen sei. Viele hätten auch keine Kinder gehabt, die die Unterlagen hätten sichern können. Dabei war es im Bürgertum um 1900 sehr beliebt, Tagebuch zu schreiben, auch ausführliche Briefwechsel mit verschiedenen Personen wurden gepflegt. »Das war eine Art der Selbstvergewisserung, der Identität«, so Walther. »Ego-Dokumente« könne man das auch nennen. Zum Glück hätten die Mitglieder der Frauenbewegung früh verstanden, dass sie und ihr Tun geschichtsrelevant seien, und viele Schreiben der Zeit wurden so bewahrt.
Bianca Walther will die historischen Frauenrechtlerinnen bekannt machen, aber nicht nur in ihrer politischen Bedeutung, sondern auch in ihren Beziehungen zueinander: »Ich interessiere mich für die Lieben.« Als lesbisch oder homosexuell hätten diese sich meist nicht bezeichnet, auch wenn sie eine eindeutig emotionale Liebesbeziehung mit einer anderen Frau führten. So hat sich Bianca Walther für den Begriff »frauenliebende Frauen« entschieden. Es sei damals durchaus möglich gewesen, als weibliches Paar aufzutreten - »solange man nicht ins Gerede kam.« Die Frauen lebten zusammen, trennten sich, verliebten sich manches Mal auch, ohne erhört zu werden. Eine Anbahnung sei damals gar nicht so einfach gewesen. Viele Briefe geben Zeugnis von Flirts und Werben, von Küssen und Sehnsüchten, von Enttäuschungen und Ängsten.
»Mich hat vor allem berührt, wie die Frauen in dieser Zeit aufgeblüht sind«, erklärt Walther. Sie hätten sich und ihre Körper aus der engen Rolle befreit, sich Räume geschaffen. Anna Pappritz zum Beispiel habe mit 38 Jahren Fahrrad fahren gelernt - das war 1899. Sie brach danach mit Freundinnen zu einer mehrtägigen Radtour auf, wanderte anschließend allein drei Wochen über die Alpen, obwohl sie chronisch krank war. In dieser Zeit habe sie vieles nachgeholt, sagt Historikerin Walther.
Mit Ika Freudenberg auf ein Bier
Sie kennt viele der weiblichen Biografien in- und auswendig: Ohne Zögern nennt sie Namen, Eigenschaften, Hintergründe und Verbindungen, als seien die Frauen zumindest gute Bekannte. Eine, die ihr besonders wichtig ist, deren Namen aber heute kaum jemand mehr kennt, ist Ika Freudenberg. Die Hüttenbesitzertochter aus dem Westerwald ging von Wiesbaden nach München und baute dort die bayerische Frauenbewegung mit auf. Auch wenn sie eine Musikerinnenausbildung absolvierte, studierte sie nicht, brachte sich vieles selbst bei. Finanziell war sie gut gestellt, doch sie setzte sich etwa sehr für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Kellnerinnen in den bayerischen Wirtshäusern ein.
»Sie war sensibel, diplomatisch, eine Theoretikerin. Aber vor allem hatte sie einen deftigen Humor und Spaß an allem, was menschlich war«, beschreibt Walther sie. »Sie wäre eine fabelhafte Abgeordnete gewesen. Mit ihr würde ich heute sehr gerne mal ein Bier trinken gehen!« Die Einführung des Frauenwahlrechts erlebte Ika Freudenberg nicht mehr: Mit 53 Jahren starb sie 1912 an Brustkrebs und wurde in Wiesbaden begraben. Die Würdigung ihrer besonderen Persönlichkeit soll nun sichtbarer werden: Eine Nachfahrin von ihr hat, mit Unterstützung von Bianca Walther und dem Archiv der deutschen Frauenbewegung, einen Antrag bei der Stadt Wiesbaden gestellt, dass Ika Freudenberg ein Ehrengrab erteilt wird.
Manch historische Frauenfigur wird aktuell sogar im Film oder in Serien gewürdigt, wenn auch oft eher fiktiv wie die Rolle der Polizistin Charlotte Ritter in »Babylon Berlin«. 1929 gab es in der »Roten Burg« am Alexanderplatz bereits Polizistinnen, deren Verhalten sich aber sicher von dem im modernen Drehbuch unterschied, so Walther. Trotz der historischen Abweichungen finde sie an solchen Rollen dennoch Geschmack.
Ihr Geheimtipp ist die BBC-Produktion »Gentleman Jack« über die frauenliebende und erotisch vielseitige Landadelige Anne Lister, die von 1791 bis 1840 in England lebte. Walther wünscht sich, dass solche Serien nicht nur im Bezahlfernsehen liefen, sondern im ganz normalen TV-Programm. Sie hat im Kopf - nur zum Spaß natürlich - bereits eine ganze Staffel über die Frauenbewegung skizziert, inklusive Besetzung aus der aktuellen Riege deutscher Schauspielerinnen. Spannenden Stoff gäbe die Zeit von der französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg sicher her.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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