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Afghanistan steht vor Blackout und Hungersnot
Unter den Taliban bricht die ohnehin schwache Wirtschaft des Landes zusammen, dazu tragen auch die Quasi-Sanktionen bei
In Afghanistans Großstädten leidet die Bevölkerung unter dem Wirtschaftskollaps. Die US-Regierung fror nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August die afghanischen Staatsguthaben ein, etwa neun Milliarden US-Dollar. Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Regierungen bisheriger Geberländer, darunter Deutschland, stellten die Zahlungen für langfristige Entwicklungsvorhaben ein, aus denen oft auch Gehälter für die afghanischen Angestellten der Regierung und Projektumsetzer der Nichtregierungsorganisationen finanziert wurden.
Zuvor waren nach Angaben früherer Regierungsinsider jeden dritten Monat 249 Millionen Dollar nach Kabul eingeflogen worden, um die Regierung von Präsident Aschraf Ghani liquide zu halten. Die Maßnahme war ursprünglich dazu gedacht gewesen, die systemische Korruption unter der vom Westen gestützten Regierung einzudämmen. Die Streichung der Gelder soll die international nicht anerkannte Taliban-Regierung treffen. Doch am meisten leidet die Bevölkerung, die bereits zuvor zu vier Fünfteln unter der Armutsgrenze lebte.
Vor den Banken bilden sich immer noch lange Schlangen, denn die Taliban haben wegen des Bargeldmangels angeordnet, dass Kontoinhaber umgerechnet nur 200 US-Dollar pro Woche abheben können, allerdings nur in der Landeswährung Afghani, die etwa fünf Prozent ihres Wertes verloren hat, aber noch weiter abstürzen könnte. Auch Gehälter von Regierungsangestellten, darunter Polizisten und Lehrer*innen, werden nach monatelanger Pause erst wieder teilweise gezahlt. Importeure lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen.
Kaum noch Geld für Brot
Augenzeugen berichteten dem »nd« aus Kabul und Masar-e-Scharif, dass zahlreiche Familien versuchen, Haushaltsgegenstände zu Geld zu machen. Es gebe aber kaum Käufer. Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Hauptbasar von Kabul sagte, er habe kaum noch Umsatz, um Brot für die eigene Familie zu kaufen. Viele Nachbargeschäfte hätten bereits geschlossen. Zudem sind die Lebensmittelpreise gestiegen, die EU spricht von »bis zu 50 Prozent«. Das betrifft auch Kochgas. Die meisten Afghan*innen sind dafür auf Gasflaschen angewiesen.
Nun droht auch ein Kollaps der Energieversorgung. Die Taliban können die von der Vorgängerregierung übernommenen Schulden von 90 Millionen US-Dollar bei den Lieferanten Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan nicht bezahlen. 70 Prozent des Stroms kommen aus dem Ausland. Das könnte die Menschen auch von Onlinemedien abschneiden, über die wichtige, vor allem unabhängige Informationen geteilt werden. Wie es auf dem Land aussieht, ist kaum zu ermitteln, weil Kontaktnetzwerke zusammenbrechen und Medien ihre Mitarbeiter nicht mehr bezahlen können. Nach Angaben der Journalistenunion Afghanistans haben 70 Prozent aller Medien ihre Arbeit eingestellt.
Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte im September, dass bis Mitte nächsten Jahres 97 Prozent der Bevölkerung in Armut leben könnten, wenn die Wirtschaft nicht wieder anspringt. Die zugesagte humanitäre Hilfe, die sogar erhöht worden ist, kann nur die unmittelbaren Folgen der Krise lindern, etwa durch Nahrungsmittellieferungen. Aber das könnte ein Kreislauf werden, aus dem große Teile der Bevölkerung nur schwer wieder ausbrechen können.
Taliban versus IS
Hinzu kommt, dass die Taliban-Machtübernahme auch die Terrorgefahr nicht gebannt hat. Der afghanische Ableger des Islamischen Staates (ISKP) hat sich seit Mitte August zu mehreren Anschlägen auf Taliban-Patrouillen in Kabul und Dschalalabad bekannt. Möglicherweise steckt die Gruppe auch hinter dem Anschlag auf eine Trauerfeier für die verstorbene Mutter von Talibansprecher Zabihullah Mudschahed am 3. Oktober in der Kabuler Idgah-Moschee. Davon gehen jedenfalls die Taliban aus, die in Reaktion darauf Razzien gegen angebliche ISKP-Schlupfwinkel in Kabul durchführten.
Auch innerhalb der Taliban-Regierung scheint es Spannungen, wenn nicht Flügelkämpfe zu geben. Die Hardliner scheinen dabei den Ton abzugeben, wie die Umsetzung der Geschlechtertrennung nun auch an den Universitäten sowie der erneute Ausschluss von Frauen aus den meisten Berufen zeigt.
Unterdessen versucht die UNO, Kanäle zu den Taliban offenzuhalten, um humanitäre Hilfe ins Land bringen zu können und die Folgen der Corona-Pandemie zu dämpfen. Zu diesem Zweck traf der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Ghebreyesus, Taliban-Regierungschef Mullah Muhammad Hassan Rahmani, wie das von den neuen Machthabern kontrollierte Staatsfernsehen am 20. September berichtete.
Das gleiche gilt für die EU. Ihr Außenbeauftragter Josep Borrell schrieb am 3. Oktober in seinem Blog, Brüssel brauche »Leute im Land, zusätzlich zu unseren humanitären Mitarbeitern« – also für niedrigschwellige politische Kontakte. Er stellte allerdings Bedingungen wie freien Zugang für die humanitären Helfer*innen: Frauenrechte und Pressefreiheit müssten geachtet werden. Es dürfte ein zähes Ringen mit den Taliban werden. Borrell sieht dafür drei Hebel: das Interesse der Taliban an diplomatischer Anerkennung, die Freigabe der afghanischen Guthaben und die Aufhebung der UN-Sanktionen.
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