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Sachsen, weltoffenstes Land
Jeja nervt: Was sich Gil Ofarim in Sachsen alles anhören muss
Der Sänger Gil Ofarim musste im Leipziger Hotel »Westin« wieder einmal Erfahrungen mit dem Antisemitismus in Deutschland machen. Zwei Mitarbeitern machte er in einem viral gegangenen Video kurz nach dem mutmaßlichen Vorfall den Vorwurf, ihn aufgrund einer Halskette mit Davidstern offen benachteiligt zu haben. Demnach hätte er nur einchecken dürfen, wenn er das jüdische Symbol versteckt hätte. Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) meldete sich in der Folge, wie andere auch, zum Thema zu Wort. Oberflächlich in Solidarität mit dem antisemitisch Angegriffenen, bekundete Wöller öffentlich seine Hoffnung, der Sänger möge den Vorfall anzeigen. Zusätzlich sagte er: »Sachsen ist ein weltoffenes Land.«
Stellen Sie sich vor, Sie sind Deutscher, hier geboren und aufgewachsen (was auf die meisten von Ihnen wohl zutrifft), und erleben immer wieder antisemitische Anfeindungen. Als ein Tropfen das Fass mal wieder zum Überlaufen bringt, nehmen Sie kurz nach der Tat emotionalisiert ein Video auf, das öffentliche Empörung erzeugt. Der Innenminister jedoch nutzt den Anlass der Aufmerksamkeit dazu, Sie zunächst einmal großzügig öffentlich in Deutschland willkommen zu heißen (»weltoffen«), um dann unmittelbar von Ihnen eine Anzeige einzufordern.
Die Wortmeldung Wöllers ist natürlich allein deshalb bemerkenswert, da Sachsen ja dasjenige Bundesland ist, das sich ausweislich am wenigsten »weltoffen« zeigt. Die AfD wurde bei der letzten Wahl stärkste Kraft. Entsprechend braun, entschuldigen Sie: blau, eingefärbt ist die Karte des Landes von Christstollen und holzgeschnitzten Schwibbogen. Die Betonung der Weltoffenheit bekommt darüber hinaus jedoch ihr Geschmäckle, weil hier das Jüdischsein Ofarims der »Welt« zugeordnet wird, der gegenüber das Land wiederum angeblich »offen«stehe.
Man kann also von der »Welt« in das Land hinein einreisen – und auch wieder ausreisen. Wohin? Darauf hatten Mitarbeitende des »Westin«, die sich ebenfalls mit Ofarim »solidarisierten«, auch gleich eine Antwort. Sie postierten sich hinter einem Banner mit mehreren aufgedruckten Israelfahnen. »Israel« kann man jedoch, so will es der Brauch, in Deutschland nicht aussprechen, ohne auch den mahnenden Zeigefinger zu erheben. Und so ließen sie neben die Staatsflaggen noch Halbmonde mit Sternen auf das Banner drucken.
Nun war Ofarim also nicht nur in Sachsen höchst offiziell willkommen geheißen worden, er hatte für seine baldige Rückreise nach Israel auch noch einen freundschaftlichen Rat bekommen: Einfach mal in Frieden mit den muslimischen Nachbar*innen leben. Das heißt hier: aufzuhören, sie wegen ihrer Religion zu diskriminieren und ständig Kriege gegen sie anzuzetteln. Ja, mach doch mal, Gil!
Aber zuerst zur Polizei – Anzeige erstatten. Denn die Gesetze, die hier überhaupt in Betracht kommen, sehen vor, dass erst nach einer solchen ermittelt wird. Es liegt eben in Ihrer Hand, zu entscheiden, ob Sie den Rechtsweg einschlagen – denn Sie als von Diskriminierung bedrohte Person sollen schließlich selber darüber bestimmen, ob und wie Sie sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen.
Sie haben ja zum Beispiel auch Redefreiheit oder könnten einer Partei beitreten. Zudem wähnen sich Diskriminierende per definitionem im Recht, sind also naturgemäß wenig einsichtig und neigen dazu, beweisen zu wollen, warum ausgerechnet Sie eine bestimmte Behandlung verdient oder sich hysterischerweise nur ausgedacht haben. Ja, das ist genau wie bei #metoo. Und dennoch setzt jener Innenminister Sie nun öffentlich unter Druck, genau diese Anzeige zu stellen.
Warum? Möglicherweise, weil es ihm gar nicht um Sie, die Betroffenen von Diskriminierung oder Antisemitismus geht. Sondern um Sachsen. Und Sachsen, dem land of the world and the open, müssen Sie erst einmal etwas nachweisen.
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