Klasse, Klassismus und Klassenkritik

Kritische Diversität ist wichtig; was daraus folgen muss, ist die Kritik der Verhältnisse, meint Livia Sarai Lergenmüller

  • Livia Sarai Lergenmüller
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit einigen Jahren ist sie in aller Munde: die Identitätspolitik. Ich selbst bin im Zuge meiner Politisierung in die »woke culture« hineingewachsen und habe ihre Argumente lange überzeugt vertreten. Mittlerweile ist mein Verhältnis jedoch ein ambivalentes.

Lange Zeit haben wir ohne Betroffene über Betroffene geredet. Dabei haben wir Entscheidungen über die Lebensrealitäten von Menschen gefällt, ohne sie einzubeziehen. Mitunter tun wir das immer noch. Die kürzlich von Männern beschlossenen Abtreibungsverbote in Texas sind das jüngste Beispiel. Daher ist es eine unverzichtbare Entwicklung, die Perspektiven derer, die von gesellschaftlichen Diskursen betroffen sind, sichtbar zu machen und stärker einzubeziehen.

Ebenso wichtig ist es, den Emotionen diskriminierter Menschen Raum zu geben. Rassismus oder Transfeindlichkeit sind nicht nur strukturelle Mechanismen, sondern oft auch kollektive Traumata. Individuelle Empfindungen sind daher politisch ernst zu nehmen.

In den letzten Jahren hat sich dieser Ansatz jedoch zu einer Dynamik verselbstständigt, in der häufig das Problem statt der Lösung im Zentrum der Debatte steht. Die Verhältnisse, die eben jene Probleme bedingen, werden immer seltener thematisiert. Getragen wird dies von vornehmlich jungen Menschen, die ihr Linkssein primär durch ihren Kampf gegen Diskriminierung ausüben und politische Kämpfe ins Individuelle zersplittern. Eine Gruppe, in die hinein auch ich politisiert wurde und deren Positionen ich zu großen Teilen als progressiv erachte.

Zunehmend vermisse ich aber eine Vision. Denn Antikapitalismus und Klassenkritik scheinen zwar weiterhin Konsens zu sein, bleiben jedoch vermehrt eine oberflächliche Randnotiz. Oft will man sich gar von den Themen der alten Linken distanzieren. Die Systemfrage und ein stärkerer Fokus auf Diskriminierungsdynamiken sollten sich jedoch nicht als gegensätzliche Positionen lesen. Traditionelle versus moderne Linke sind keine Entweder-oder, sondern sollten Hand in Hand gehen und voneinander lernen.

Kurz vor der Wahl verkündete ein größerer linker Instagram-Account, er könne diesmal aufgrund rassistischer Äußerungen und mangelhafter Vertretung von Minderheiten nicht die Linke wählen. Daher habe er sich schweren Herzens für die Grünen entschieden. Auch mich schaudert es, wenn Sahra Wagenknecht die Sorge um zu viele migrantisierte Kinder in deutschen Schulklassen für eine legitime linke Position hält, Einwanderung regulieren will und in populistischer Rhetorik die Anliegen der Sinti*zze und Romn*ja Community für belanglos erklärt. Sein Kreuz deshalb jedoch einer Partei zu geben, die ihre Politik primär an Besserverdienenden richtet und die es erst mit Beginn des Wahlkampfes für nötig hielt, sich vom Rassisten Boris Palmer zu distanzieren, lässt mich ratlos zurück.

Ein weiteres Beispiel für diese Dynamik ist der Trendbegriff des Klassismus. Die Phrase, die parallel zu anderen -ismen wie Sexismus oder Rassismus verwendet wird, bezeichnet die Diskriminierung auf Grund der sozioökonomischen Herkunft; die Debatte darüber und hat ohne Zweifel viel Gutes hervorgebracht. Manchmal müssen Dinge ganz einfach benannt werden, um gesamtgesellschaftlich erkannt zu werden. Schwierig wird es jedoch, wenn der Kampf gegen Klassismus zum primären politischen Ziel wird.

Denn der Klassismusbegriff reformuliert die Klassenfrage als eine Diskriminierungsfrage und verklärt dabei die sozioökonomische Herkunft zum Diversitätsmerkmal. Vorurteile gegenüber ärmeren Menschen zu hinterfragen und die problematischen Strukturen aufzudecken, die sozialen Aufstieg erschweren, ist zwar ohne Zweifel ein wichtiger Prozess. Mein langfristiges Anliegen als Linke ist jedoch nicht die bessere Behandlung von Armen, sondern die Überwindung der Armut. Daher kann Klassismus lediglich Nebenschauplatz sein. Was darauf folgen muss, ist eine Kritik der Verhältnisse.

In Zeiten, in denen politischer Aktivismus verstärkt in sozialen Medien stattfindet, scheint der Drang zu wachsen, sich stets eindeutig zu positionieren. Auch innerhalb linker Lager. Das verkürzt jedoch Argumentationsketten. Kritische Diversität und diskriminierungssensibles Handeln sind wichtig - ohne grundlegenden Systemwandel bleiben sie aber ein Tropfen auf den heißen Stein.

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