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Das sinkende Schiff verlassen
Am Schauspiel Leipzig hatte »Die Rättin« nach Günter Grass Premiere
Im kalten Scheinwerferlicht läuft der letzte Mensch seine Runden. Für wen inszeniert er den im Gegenlicht modellierten Körper? Seine Spezies ist verschwunden. Nur Müll hatte sie auf der Erde hinterlassen, der zum Nährboden eines neuen Geschlechts wurde. In seinen Träumen berichtet ihm eine Rättin von der angebrochenen posthumanen Ära. Oder ist er selbst nur noch Hirngespinst und verblasste Erinnerung, über die sich die Nagergesellschaft belustigt? Wer sich wen einbildet, lässt sich in der Inszenierung von Claudia Bauer nicht bestimmen. Zum Spielzeitauftakt des Schauspiels Leipzig bringt die Hausregisseurin den Roman »Die Rättin« von Günter Grass bildstark und opulent auf die Bühne. Gemeinsam mit Dramaturg Matthias Döpke erarbeitete sie aus den 500 Buchseiten eine kompakte Bühnenfassung, in der die Skurrilitäten der literarischen Vorlage um aktuelle Bezüge ergänzt werden. Der entstandene Szenenteppich, der zwischen einem Expeditions- und einem Raumschiff, der in der Ostsee versunkenen Stadt Vineta und dem Märchenwald springt, schafft ein bedeutungsschweres Theaterfest, in dem das Publikum lustvoll überfordert wird.
Eine prophetische Dimension erhielt der Roman von 1986, als sich nur wenige Monate nach der Veröffentlichung die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ereignete. Die darin transportierte Endzeitstimmung prägte Bauers eigene »No-Future-Punk«-Attitüde in den 80er Jahren, wie sie im Interview mit dem »MDR« erzählte. Das apokalyptische Gefühl, das Waldsterben und wachsende Müllberge damals hervorriefen, ist womöglich heute vertrauter als damals. Im Streit mit der Rättin weist der letzte Mensch die Vorwürfe, seine Art hätte die Umwelt zerstört, von sich. Der Anthropozent ist selbstverständlich ein Mann - ein alter und weißer noch dazu -, der nicht nur die Katastrophe leugnet, während er in einer Raumkapsel um die zerstörte Erde fliegt, sondern auch die Verfügungsgewalt über das Ende der Welt einfordert. Wann er geht, das bestimmt der Ich-Erzähler immer noch selbst.
Nackt und einsam sitzt der Verlassene, den Tilo Krügel als wahnhaft Getriebenen spielt, in einem Würfel über der Bühne. Dort fantasiert er »Weibergeschichten«, die aus misogyner Perspektive von Wissenschaftlerinnen und ihrer Expedition nach Vineta erzählen, und einen Stummfilm über den deutschen Wald. Der erwachsen gewordene Oskar Matzerath, der mit der Blechtrommel auf die Bühne tritt, soll das Meisterwerk produzieren und so das Ökosystem im Bild bewahren. Für den Regisseur irren die Kanzlerkinder Greta und Johannes zwischen herabgelassenen Baumattrappen umher. Die Kamera fängt ein, was dem Theaterpublikum sonst verborgen bliebe und projiziert es auf die Raumkapsel. In dokumentarischer Großaufnahme werden die verschreckten Rehäuglein des Geschwisterpaars gezeigt, während sie sich mit den Grimm’schen Figuren auf den Weg nach Berlin machen.
»Wir wollen eine Märchenregierung«, fordern die skurrilen Fabelwesen, die Studierende der Leipziger Hochschule für Musik und Theater wunderbar komisch darstellen. Hier könnte sich eine Kritik an der allzu hoffnungsvollen Staatsanrufung durch die Klimabewegung andeuten. Der ironische Ton ließe sich ebenfalls Matzerath und dem Ich-Erzähler zuschreiben, die ihren Film vom Klappstuhl aus inszenieren. In den sich überlagernden Erzählebenen ist eine klare Haltung schwer auszumachen. Die Deutungsvielheit der Bilder gehört zum Überschwang des Abends, der sich in Kostüm und Musik fortsetzt.
Kostümbildnerin Vanessa Rust kleidet die Nagerinnen in barocke Roben mit ausgepolsterten Schultern. Aus dem gleichen, ebenso farbenprächtigen Stoff sind die Masken gefertigt. Im Streit mit dem kaum bekleideten Ich-Erzähler sind sie die optischen Sympathieträger, obwohl die Tiere viele Fehler wiederholen. So verehren sie eine kaschubische Großmutter - ein weiterer Verweis auf »Die Blechtrommel« -, die ihren religiösen Streitereien zum Opfer fällt. Im fast leer geräumten Bühnenraum werden keine Visionen einer befreiten Rattengesellschaft gesponnen. Als Chor tragen sie ihr Requiem auf den Menschen vor, von dessem Vermächtnis sie sich nicht vollends lösen können. Sänger und Musiker Hubert Wild leitet den sakralen Gesang mit seiner E-Orgel an. Voll Trauer und Erleichterung klingt da in wohl choreografierter Ensemblearbeit über die Bühne: »Weg seid ihr. Weg!«
Gerade im Einsatz des Chores spielt die bereits drei Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladene Regisseurin mit der Überreizung des Publikums. Wenn sich die Erzähl- und Spielebenen überlagern, wird das gesprochene Wort zweitrangig. Es geht um den erdrückenden Rausch, der sich in diesen Momenten aus der Vielzahl der Theatermittel entfaltet. Die Inszenierung gelingt als Wimmelbild aus inszenatorischen Einfällen und Verweisen auf Grass’sche Werke oder aktuelle Debatten. So schließt die märchenhafte Klimabewegung den »ewig wach küssenden Prinzen« vorerst aus, da der ohne Konsens bewusstlose Frauen küsst. Ironie, Ernst und Komik verbinden sich in der zweistündigen Inszenierung zu einem übersprudelnden Theaterabend. Darin gibt es keinen tröstlichen oder versöhnlichen Ton. Es ist eine Einladung, im Fabulieren grausiger Zukünfte unruhig zu bleiben.
Nächste Vorstellungen: 21.10., 30.10. und 14.11. www.schauspiel-leipzig.de
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