- Politik
- Missbrauch
Lange eingeschüchtert und ignoriert
Auch die evangelische Kirche hat Missbrauchsfälle vertuscht – Opfer geht an die Öffentlichkeit und will anderen Betroffenen Mut machen
Zusammen mit Vertretern der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ist Lisa Meyer (Name geändert) dieser Tage per Video vor die Presse getreten. Sie will öffentlich machen, was ihr ein protestantischer Diakon im Jahr 1973 angetan hat. Damals, als sie zehn Jahr jung war und im Gemeindehaus-Keller der König-Christus-Kirche im niedersächsischen Oesede bei Osnabrück Verstecken spielte. Eine gleichaltrige Freundin machte mit und auch Siegfried G., ein angehender, gut 30 Jahre alter Diakon.
Mädchen erzählten niemandem davon
»Eklig« empfanden es die Mädchen, als der sie plötzlich küsste und im Intimbereich anfasste. Doch die Mädchen erzählten niemandem davon. Etwa ein Jahr nach diesem Vorfall, auf einer Jugendfreizeit, nutzte der Mann eine für ihn günstige Gelegenheit, die krank im Bett liegende Lisa schwer sexuell zu missbrauchen. Nach derzeitiger Rechtsprechung würde das, was ihr damals geschah, als Vergewaltigung gewertet werden, weiß Lisa Meyer.
Warum sie sich erst jetzt als Opfer offenbart? Zwar hatte sie gleich nach der Tat auf der Jugendfreizeit, an der auch die Frau und die Kinder des Diakons teilnahmen, einer Betreuerin davon berichtet. Doch diese Frau habe ihr keinen Glauben geschenkt, sondern vielmehr gedroht: Sofern Lisa bei ihren Schilderungen bleibe, werde sie »Ärger« bekommen. Lisa schwieg. Bis zum Jahr 2010. In jenem Jahr hatte sie von den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche erfahren und davon, dass diese aufgearbeitet werden sollen.
Würdenträger veranlasste nichts
Offenbar hatte das Reden über diese Missbrauchsskandale und ihre geplante Aufarbeitung Lisa Meyer Mut gemacht, sich vor elf Jahren an den damaligen Landessuperintendenten – in der evangelischen Kirche ein Vorgesetzter anderer Geistlicher – zu wenden und über das Erlittene zu sprechen. Doch der Würdenträger habe nichts veranlasst. Ungern denkt Lisa auch an den Kontakt mit der offiziellen Landeskirche zurück, wo sie sich um eine Entschädigung für die Taten des Diakons bemüht hatte. Das entsprechende Verfahren schildert sie als »sehr belastend, absolut intransparent und wenig betroffenenfreundlich«.
»Wir haben Fehler gemacht«, bekannte jetzt der Leiter der Rechtsabteilung beim Landeskirchenamt, Rainer Malnusch. Er bat die Betroffene Lisa Meyer während des Pressetermins um Entschuldigung und sagte: Es habe sich vieles verändert und verbessert, »aber es gibt noch viel zu tun, und manches geht auch nicht so schnell, wie wir uns das selbst wünschen«.
Ermittlungen im Schneckentempo
Geht »es« bei den Katholiken schneller? Immerhin hat beispielsweise im Bistum Hildesheim der seit 2018 amtierende Bischof Heiner Wilmer schon sehr kurz nach seiner Weihe engagiert die Ermittlungen von Missbrauchsfällen vorangetrieben. Entsprechende Aktivitäten der evangelischen Seite verlaufen dagegen, so scheint es, im Schneckentempo.
Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur sexualisierten Gewalt im Bereich des Klerus war schon lange angekündigt, ehe sie im Dezember des vergangenen Jahres endlich in Angriff genommen wurde. Vorliegen wird die Expertise voraussichtlich erst im Jahr 2023. Damit sind die Protestanten deutlich langsamer als die Katholiken, die bereits 2018 eine solche Studie präsentierten.
Eher Täter als Opfer geschützt
Schon 2014 hatte die evangelische Kirche in Norddeutschland eine Studie auf regionaler Ebene vorgelegt. Diese Studie besagt, dass Missbrauchsfälle im evangelischen Bereich jahrelang vertuscht wurden. Offenbar hat auch die evangelische Kirche im eigenen Interesse lange Zeit eher die Täter als die Opfer geschützt. Damit das nicht weiter geschehen kann, sollten sich Betroffene offenbaren. Dazu wolle sie mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit ermutigen, bekräftigt Lisa Meyer.
Ihr Peiniger war 1977 wegen eines weiteren Missbrauchsfalles, der aber nicht zur Anzeige gebracht wurde, aus dem Kirchendienst entlassen worden. Auch danach soll er noch Kinder missbraucht haben. Mittlerweile ist er verstorben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.