Gruppenbild mit Bergen

Monika Helfer betreibt in »Vati« Erinnerungsarbeit - und ist zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 5 Min.

Monika Helfer ist eine Zeit lang zwar nicht früh schlafen gegangen, auch wenn sie am Nachmittag schon müde war. Aber ähnlich wie ihr berühmter Vorgänger der Erinnerungsarbeit, Marcel Proust, sucht auch sie gezielt den Raum zwischen Wachen und Schlafen auf, um sich an die Zeit ihrer Kindheit zu erinnern. »Ich will müde sein«, schreibt sie. »Ich muss näher an die Träume heranrücken, noch nicht Schlaf, aber auch nicht mehr wach, dann funktioniert das Erinnern besser.« Doch anders als Proust gießt Helfer ihre Traumgestalten nicht in erschöpfend auserzählte Wälzer, sondern in ultimativ verdichtete Romankleinodien.

Vergangenes Jahr erst veröffentlichte die 1947 geborene Österreicherin die berückend märchenhafte Geschichte der Eltern und Geschwister ihrer Mutter, die in ihrem Vorarlberger Alpendorf nur die »Bagage« genannt wurden und dort zugleich die Ärmsten und die Schönsten von allen waren. Nun erzählt Helfer vor allem von ihrem »Vati«, der freilich ausgerechnet denselben familiären »Schicksalsnamen« trug wie sein früh verstorbener Schwiegervater Josef, dann aber gerade diejenige von dessen Töchtern heiratete, die ihr Vater sein Leben lang nicht angesehen hat. Weil er dachte, seine Frau Maria sei ihm im Krieg fremdgegangen, bevor sie die kleine Grete bekam und wenige Jahre später ebenfalls früh starb.

Auch der Schwiegersohn Josef gehörte als Kind zu den »Ärmsten der Armen«, das uneheliche Kind von einem Bauern und dessen Magd im Land Salzburg. Mutter, Tante und Sohn hausten in einem Schuppen neben dem Bauernhaus, doch der kleine Josef bringt sich schon als Fünfjähriger selbst das Lesen bei und schreibt später in der zwei Regale umfassenden »Bibliothek« des örtlichen Baumeisters ganze Romane in sein Schulheft ab. Der Pfarrer schließlich bringt den Jungen aufs »Günasion«, wie seine Mutter es würdevoll nennt. Den Traum vom Studium zerstört zwar ein halbes Jahr vor der Matura der nächste Krieg, der Josef außer dem Lebenstraum auch ein Bein raubt, dafür aber seine künftige Frau Grete als Lazarettschwester schenkt. Doch ein Büchernarr ist er sein Leben lang geblieben.

Nach dem Krieg lebt das junge Paar eine Weile im Haus der Bagage, jener sieben wilden Geschwister ohne Eltern, »im hintersten Wald«, dort kommen auch die Kinder Gretel, Monika und Richard zur Welt.

Eines Tages wird dem schlauen Bauernsohn Josef die Stelle als Verwalter eines Kriegsopfererholungsheims in den nahen Bergen angeboten. Weil er sich dort um einen jungen Professorensohn verdient macht, vererbt dessen Vater nach seinem Tod einen Großteil seiner Bücher an das Heim, obwohl sich dort niemand dafür interessiert, außer Josef. Dem aber sind sie heilig, und auch der Tochter Monika versucht er seine Begeisterung näherzubringen. Die interessiert sich zwar später nur für den Inhalt und lässt ausgelesene Taschenbücher in ihrer Wohnung »versickern«, aber als Kind stellt sie dem Vati kluge Fragen: »›Ab wie viel Büchern ist es eine Bibliothek?‹ Seine abgezählten 1324 Prachtbände jedenfalls sind eine. ›Und bis wann ist es noch keine Bibliothek?‹, fragte ich. ›Wenigstens ein Regal muss voll sein‹, sagte er. ›Aber eines vom Boden bis unter die Decke, und wenigstens einen Meter breit muss es sein. Dann kann man es gelten lassen.‹«

Wie schon in »Die Bagage« erzählt Helfer auch die Geschichte ihres »Vatis« in ihren ganz eigenen Erinnerungsmäandern zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Diesmal steht im Zentrum eine Fotografie, die sie zu Beginn des Romans von ihrer Stiefmutter bekommt: ein Gruppenbild der Heimbewohner, auf dem der Vater - sonst als Hausherr stets in der Mitte - ausnahmsweise nur wie von außen dazugestellt wirkt.

Von dieser Beobachtung ausgehend, entfaltet Monika Helfer ein großes Familienunglück, das sie in der Mitte des Buches zu einer grandios bewegten Wimmelbildbeschreibung ausbreitet. Als Josef erfährt, dass das dürftig besuchte Heim in ein Hotel umgewandelt werden und dafür auch die Bibliothek weichen soll, beginnt er, einen Teil der Bücher »beiseitezuschaffen«, zunächst in sein kleines Zimmerchen in der Stadt, wo er an den Wochenenden versucht, die Matura nachzuholen. Die letzte Fuhre vergräbt er gemeinsam mit Monika im Wald. Er dachte, es wird schon niemand merken, wenn ein paar Bücher fehlen, doch als ein Rechnungsprüfer zur Inventur erscheint, sieht Josef, dass im Testament des Professors jedes Buch einzeln aufgeführt ist. Aus Angst, des Diebstahls überführt zu werden, versucht er noch am selben Tag, dem Tag an dem jene skurrile Fotografie entstand, sich das Leben zu nehmen.

Von diesem tragischen Tag an wird alles anders. Doch Monika Helfer beschreibt auch die folgenden schweren Jahre der gebeutelten Familie mit lakonischer Leichtigkeit und weisem Witz. Das ist besonders gut auch im Hörbuch zu erleben, das die Autorin mit ihrem heiseren Säuseln wieder selbst eingelesen hat - bisweilen etwas eigenwillig phrasiert, aber in den Pointen stets auf den Punkt.

Mit »Vati« ist Monika Helfer zum ersten Mal unter den letzten fünf Titeln, die für den Deutschen Buchpreis nominiert sind, der am Montag verliehen wird. Ihre spektakulär unaufdringliche Erinnerungskunst hätte ihn vollauf verdient.

Monika Helfer: Vati. Hanser, 176 S., geb., 20 €. Als Hörbuch, gelesen von der Autorin, erschienen im Hörverlag.

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