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Vorwurf: Tausendfache Mordbeihilfe

Prozess gegen ehemalige Sekretärin im Nazi-KZ Stutthof mit Anklageverlesung eröffnet

  • Dieter Hanisch, Itzehoe
  • Lesedauer: 3 Min.

Der vielleicht letzte Prozess zu NS-Verbrechen im Konzentrationslager Stutthof wurde am Dienstag in Itzehoe mit der Anklageverlesung fortgesetzt - diesmal in Anwesenheit der Beschuldigten. Der eigentlichen Prozesseröffnung am 30. September hatte sich die 96-jährige Irmgard F. überraschend durch kurzzeitige Flucht entzogen. Nun trägt sie ein elektronisches Armband, das ihren aktuellen Aufenthalt anzeigt.

Der früheren Sekretärin im Lager Stutthof bei Danzig (heute Gdańsk) wird vorgeworfen, zwischen dem 1. Juni 1943 und dem 1. April 1945 in über 11 000 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet und durch ihr Wissen die Funktionstüchtigkeit des Lagers gewährleistet zu haben. Das Verfahren wird nach Jugendstrafrecht geführt, da F. zu Beginn ihrer Tätigkeit im KZ erst 18 Jahre alt war.

Nahezu regungslos verfolgte Irmgard F. die Verlesung der Anklageschrift durch Staatsanwältin Maxi Wantzen, auch, als die grausamen systematischen Tötungspraktiken beschrieben wurden. Sie bestätigte lediglich die Richtigkeit ihrer Personaldaten und schwieg ansonsten. Ihr Pflichtverteidiger Wolf Molkentien gab bekannt, seine Mandantin werde vorerst keine Aussage machen.

Vor drei Wochen war sie noch aus ihrem Seniorenstift Richtung Hamburg geflüchtet, ein paar Stunden später aber von der Polizei aufgegriffen worden. Für fünf Tage galt dann ein Haftbefehl gegen die Hochbetagte, die daraufhin in die Frauenhaftanstalt Lübeck verbracht wurde. Nach erfolgreicher Haftbeschwerde durfte sie in ihr Quickborner Seniorendomizil zurückkehren, muss aber das Überwachungsarmband tragen.

In den Gerichtssaal wurde sie von einer Vertreterin der medizinischen Gerichtshilfe in einem Rollstuhl gebracht. Um sich Fotografen und Kamerateams zu entziehen, trug sie nicht nur einen Mund-Nasen-Schutz, sondern hatte den Kopf mit einem bunten Tuch und die Augen mit einer Sonnenbrille verdeckt.

Zuvor hatte Verteidiger Molkentien ein Statement verlesen, in dem er bekräftigte, seine Mandantin leugne die Shoah keinesfalls und habe keinerlei Sympathien für Holocaust-Leugner. Der Anwalt warb zugleich um Verständnis für den Unwillen der Angeklagten zu dem Prozess. Sie verstehe nicht, warum sie für ihre seit Jahrzehnten bekannte Tätigkeit in Stutthof erst jetzt aufgrund von Veränderungen in den juristischen Auffassungen vor Gericht stehe. »Aus Sicht der Angeklagten überwiegt im Moment der Aspekt der Zumutung«, so Molkentien. Von der Tötungsmaschinerie in Stutthof habe F. in ihrem Büro nichts mitbekommen.

Das wiederum glauben die Vertreter der Nebenklage nicht. Anwalt Christoph Rückel beantragte daher einen Ortstermin in Polen. Die unmittelbare Inaugenscheinnahme des Tatorts in dem eigentlich sehr kleinen Lager sei wesentlich erhellender als alle Akten. Darüber hat die 3. Große Jugendkammer des Landgerichts aber noch nicht entschieden. Zunächst soll die Beweisaufnahme eröffnet werden, wozu bereits am nächsten Prozesstag, dem 26. Oktober, ein historischer Sachverständiger angehört werden soll.

Zu einem ersten Disput kam es, als Onür Ozata als einer von 13 Nebenklageanwälten eine Prozesserklärung aus Sicht von Überlebenden des Lagers verlesen wollte. Der Vorsitzende Richter Dominik Groß belehrte Ozata, dass er dies nicht gestatten müsse. Daraufhin formulierte Ozata sein Anliegen als Antrag. Über diesen wird auch am 26. Oktober entschieden. Ozatas Kollege Mehmet Daimagüler forderte Groß daraufhin auf, dem unter internationaler Beobachtung stehenden Prozess wegen dessen historischer Bedeutung keinen »juristischen Klein-Klein-Stempel« aufzudrücken.

Vor Prozessbeginn hatten sich am Verhandlungsort rund 50 Menschen zu einer antifaschistischen Mahnwache versammelt. Dies war eine Reaktion darauf, dass die rechte Szene in sozialen Medien zum Prozessbesuch aufgerufen hatte, um Solidarität mit der Angeklagten zu bekunden. Es tauchten jedoch nur wenige Neonazis in dem zum Gerichtssaal umgerüsteten Logistikzentrum auf.

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