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Wen stört die Inflation?
Die rasch steigenden Preise, so heißt es, schüren Sorgen bei den Menschen. Dabei wirkt die Teuerung gar nicht für alle gleich
Weltweit steigen die Inflationsraten, auch in Deutschland, wo die Rate nächsten Monat wohl bei fünf Prozent liegen wird. »Viele Bürgerinnen und Bürger sorgen sich, dass die Preise in diesem Tempo weiterhin so zulegen könnten«, meldet das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW. Warnende Worte kommen auch von Politikerinnen, Unternehmern, Bankern und Börsianerinnen. Doch sind deren Sorgen ganz andere als die der Normalverbraucher, die beim Einkauf immer mehr bezahlen müssen. Tatsächlich geht es bei der aktuellen Inflationsdebatte um wesentlich mehr - um gefährdete Profite und drohende Krisen, um verwirrte Ökonomen und zwischenstaatliche Gegensätze.
Konsumenten sind von der Inflation schlicht passiv betroffen: Die Preise steigen und müssen von den »Endverbraucherinnen« bezahlt werden. Denn wer von Lohn oder Sozialleistungen lebt, ist »Preisnehmer«. Verzicht ist also angesagt, entweder, indem man die Heizung herunterdreht oder indem man an anderen Ausgaben spart. Inflation bedeutet für abhängig Beschäftigte oder Erwerbslose: Sie werden ein Stück ärmer, was jene besonders trifft, die ohnehin wenig Geld haben und jenen relativ egal sein kann, die reich sind. Die »Bürgerinnen und Bürger« sorgen sich also nicht alle gleich stark.
Die explodierenden Energiepreise beschäftigten auch den EU-Gipfel diese Woche. Dabei zeigte sich deutlich, wie weit der EU-Rat hier von einem Konsens entfernt ist. Seit Wochen drängen Staaten wie Spanien, Italien oder Frankreich auf eine strategische Antwort der EU. Sie fordern eine europäische Einkaufsgemeinschaft für Gas, um so bessere Preise zu erzielen. Zudem wollen sie gemeinsame Gasreserven, um unabhängiger von kurzzeitigen Preissprüngen zu werden. Deutschland bremst die Pläne und ist auch gegen Eingriffe in den Strommarkt. Berlin hat sich Gas über langfristige Verträge gesichert und folglich wenig Interesse an einer Reform. Die Kommission hingegen sieht hier vor allem die Länder in der Pflicht.
Frankreich will zudem den Strompreis vom Gaspreis lösen, um so die Teuerung zu bremsen und plädiert für eine Reform des europäischen Strommarktes. Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire wiederholte auf dem Gipfel sein Mantra: »Wenn wir im Kampf gegen den Klimawandel erfolgreich sein wollen, brauchen wir Atomkraft«. Paris lobbyiert seit Wochen dafür, Atomkraft als nachhaltige Energieform in die grüne Liste der EU aufzunehmen. Somit könnten im Rahmen des europäischen Green Deals auch Milliarden in den AKW-Ausbau fließen. Während zehn Staaten, darunter Finnland, Tschechien und Polen, den Vorstoß unterstützen, ist eine Gruppe um Deutschland dagegen. Die Schlussfolgerungen des EU-Rats vom Donnerstag sind entsprechend unverbindlich: Man wolle den Gründen für den Preisanstieg genauer auf den Grund gehen.
Streit gab es auch über den EU-Emissionshandel. Ungarns Premier Victor Orbán forderte in Brüssel ein Aussetzen des »dummen Plans«. Unterstützung bekam er vom scheidenden tschechischen Premier Andrej Babis. Und so wurde in den Schlussfolgerungen festgelegt, dass sich Kommission und EU-Finanzaufsicht ESMA den Markt für CO2-Emissionen und die Strom- und Gasmärkte genauer ansehen sollen. Fabian Lambeck
Unternehmen des produzierenden Gewerbes leiden derzeit unter steigenden Preisen für Rohstoffe und Vorprodukte, also unter steigenden Kosten beim Einkauf von Produktions- und Betriebsmitteln. Das spiegelt sich in der so genannten Erzeugerpreis-Inflation, also bei den zwischen Unternehmen abgerechneten Preisen. Sie lag im September bei 14 Prozent. Anders als Normalbürgerinnen können Unternehmen jedoch versuchen, die höheren Kosten unmittelbar auf ihre Verkaufspreise aufzuschlagen. Das Problem: Damit schädigen sie ihre Kunden, es droht das, was Ökonomen »demand destruction« nennen, also die Zerstörung von Nachfrage. Zudem muss sich jedes Unternehmen überlegen, ob die Konkurrenzlage Preiserhöhungen überhaupt gestattet. Erhöhen die Unternehmen ihre Preise dagegen nicht, geht ihnen Profit verloren. Auch hier zeigt sich also ein Unterschied zwischen den »Bürgerinnen und Bürgern«: Die einen müssen gegebenenfalls auf Wärme oder Obst verzichten, die anderen auf Rendite.
Standort: Vereint werden beide Gruppen im Standort, dessen Konjunktur durch höhere Inflationsraten gefährdet wird. Insbesondere die höheren Kosten für Energie werden als wichtiger Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen beklagt. »Die Politik sollte die staatlichen Komponenten des Strompreises möglichst schnell zurückfahren«, fordert die Deutsche Bank. Dies wäre eine soziale Maßnahme, schließlich »wurden 2019 etwa 4,75 Millionen Stromsperrungen gegenüber Haushaltskunden angedroht. Ein niedrigerer Strompreis ist darüber hinaus für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland von immenser Bedeutung.« Auf diese Weise verbindet die Deutsche Bank nahtlos die Sorgen der Ärmsten mit den Sorgen der großen Industrie nach dem Motto: Wir alle leiden unter der teuren Energie.
Souveränität: Die Profiteure der höheren Preise für Rohstoffe und Vorprodukte sitzen derzeit zumeist im Ausland in Form russischer Gasproduzenten, taiwanesischer Chiphersteller oder chinesischer Frachtkonzerne. Aus deutscher oder europäischer Sicht handelt es sich bei den gestiegenen Kosten also um einen Abfluss von nationalem Reichtum ins Ausland. Zudem wird die Abhängigkeit von ausländischen Lieferungen als Machtverlust beklagt: Die EU treibt daher den Aufbau einer europäischen Chipproduktion voran, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte diese Woche, die Abhängigkeit Europas von Energieimporten zu verringern, sie warb für mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien, um »die europäische Souveränität zu stärken«.
Finanzmärkte: »Inflationserwartungen an den Anleihemärkten steigen auf neue Hochs«, meldet am Freitag die DZ Bank. Die Folge: An den Börsen steigen die Zinsen für Staatsschuldpapiere, weil die Anleger so den inflationsbedingten Renditeverlust kompensieren. Damit droht Gefahr. Denn der jahrelange Börsenboom beruhte auf den niedrigen Zinsen, die Aktien und Immobilien als Geldanlagen attraktiv machten. Der US-Börsenindex S&P 500 steht auf Rekordhoch, ebenso die Kryptowährung Bitcoin, und laut Schweizer Investmentbank UBS »befinden sich 9 von 25 untersuchten Wohnungsmärkten weltweit aktuell in der Blasenrisikozone«. Preise und Kurse sind mittlerweile so hoch gestiegen, dass der Internationale Währungsfonds diese Woche vor »gestreckten Bewertungen« an den Märkten warnte. Steigen im Zuge der höheren Inflation die Zinsen, so droht überall Entwertung: bei Aktien, Immobilien und Anleihen.
Staatsschulden: Auch hier können steigende Zinsen zu einem Problem werden. Denn seit Jahren fangen Regierungen weltweit die in immer kürzeren Abständen auftretenden Krisen durch neue Staatsschulden auf. Wie die EU-Kommission am Freitag bekannt gab, erhöhten sich die Staatsschulden der Eurozone 2020 von 84 auf knapp 100 Prozent der Wirtschaftsleistung - und sie steigt weiter, die Neuverschuldung lag zuletzt bei sieben Prozent der Wirtschaftsleistung. Finanzierbar ist diese Kreditflut wegen der niedrigen Zinsen, für die die Zentralbanken sorgen. Bleibt nun aber die Inflation dauerhaft hoch, könnten die Zentralbanken sich gezwungen sehen, die Zinsen zu erhöhen. »Die gestiegenen Inflationsraten haben die Diskussion über einen schnelleren Ausstieg der Notenbanken aus der extrem expansiven Geldpolitik neu angefacht«, erklärt die DZ Bank. In Großbritannien werden die Leitzinsen wohl schon Anfang November heraufgesetzt.
Gefährdet wäre dadurch nicht nur das Wirtschaftswachstum, das derzeit schon wieder nachlässt. Gefährdet wäre prinzipiell das seit Jahren herrschende »befremdliche Gleichgewicht der Weltwirtschaft« (Natixis Bank), in dem die niedrige Inflation den Zentralbanken es erlaubt, die Zinsen extrem niedrig zu halten und so eine Verschuldung zu ermöglichen, mit der bislang alle Krisen irgendwie überbrückt worden sind - und mit der in Zukunft der Übergang in eine digitale und klimafreundlichere Wirtschaft finanziert werden soll.
Eurozone: Kräftige Steigerungen der Zinsen »könnten die ohnehin stark strapazierten Budgets vieler Staaten belasten und die Rückführung der Schulden auf ein nachhaltiges Niveau praktisch unmöglich machen«, so die DZ Bank. Ein Problem wäre das weniger für Deutschland, sondern für die ehemaligen Euro-Krisenstaaten im Süden. Denn dort liegen die Schulden ohnehin höher. Zudem hat die Coronakrise die Ökonomien Italiens, Spaniens, Portugals und Griechenlands deutlich härter getroffen als die deutsche, insbesondere wegen des Rückgangs des Tourismus. Die zunehmende Verschuldung der Euro-Peripherie garantierte in den vergangenen Monaten vor allem die Europäische Zentralbank mit ihren Anleihekäufen, die politisch umstritten sind. »Bei steigenden Zinsen dürfte sich die Polarisierung der Eurozone in Nord und Süd weiter vertiefen«, so die französische Bank Natixis.
Wissenschaft: Auch für den wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstand ist die Inflation ein Problem, zwar kein praktisches, aber ein theoretisches. Denn die gängigen Modelle erklären weder, warum die Inflation in den vergangenen Jahren so niedrig war, noch geben sie verlässlich Auskunft darüber, was ansteht. »Bisher ist nicht klar, warum die historisch einmalige Aufblähung der Zentralbankbilanzen bei gleichzeitig negativen Zinsen nicht zu größerem Preisdruck geführt hat«, schreibt David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Nun dränge sich die Frage auf, »woher wir die Sicherheit nehmen wollen, dass die Inflation auch künftig gedämpft bleibt. Die elegante Makroökonomik, auf der die dynamisch stochastischen allgemeinen Gleichgewichtsmodelle basieren, ist jedenfalls mit ihrem Latein am Ende. Eine brotlose Kunst.«
Lohn: Wenn Unternehmen die Preise heraufsetzen, macht dies Konsumentinnen ärmer. Zwar können die Gewerkschaften versuchen, den Kaufkraftverlust der Beschäftigten durch Lohnerhöhungen auszugleichen. Doch ist dies nur zeitversetzt möglich. »Da die meisten der Tarifabschlüsse lange Laufzeiten aufweisen, stehen im kommenden Jahr relativ wenige neue Verhandlungen an«, erklärt die Commerzbank. Bisher sei von »höheren Tarifabschlüssen nichts zu sehen«. Das soll auch so bleiben. Denn die Mehrzahl der Ökonomen warnt, bei stärker steigenden Löhnen drohe eine »Lohn-Preis-Spirale«. Das bedeutet: Steigen die Löhne, schlagen die Unternehmen die höheren Kosten abermals auf die Preise auf, um ihren Profit zu sichern. Damit das nicht passiert, sollen die Lohnabhängigen die höheren Preise hinnehmen und sich ihr knapperes Budget dementsprechend einteilen. Andernfalls würde »ein deutlich beschleunigter Lohnanstieg die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale erhöhen und damit das Risiko einer Selbstverstärkung der Teuerung«, warnt die Commerzbank, und die französische Bank Natixis sieht »höhere Löhne als schlicht unvereinbar mit wachsenden Staatsdefiziten«.
Schuld: Dem breiten Publikum wird die Inflationsgefahr derzeit vor allem mit steigenden Preisen beim Einkauf versinnbildlicht. Dass Konsumentinnen und Lohnabhängige sich weniger Obst, Gemüse oder Strom leisten können, ist aber nicht die zentrale Sorge von Politik, Unternehmen und Finanzmärkten. Diesen Verzicht hält das System gut aus, es braucht ihn sogar auf Dauer: Als langfristig große Gefahr für die Stabilität des Gesamtsystems sehen Ökonominnen derzeit eine wachsende Macht der Arbeitnehmerseite: Wenn mit der Alterung der Gesellschaft - »demografischer Wandel« - das Arbeitskräfteangebot schrumpft und die Nutzung ausländischer Billiglohnkräfte - die »Globalisierung« - eingeschränkt wird, verliehe dies den Gewerkschaften hierzulande mehr Macht. Und das darf nicht sein: »Demografie und De-Globalisierung sind langfristige Inflationsrisiken«, mahnt die DZ Bank und stellt damit klar: Schuld an der Inflation ist der Lohn, nicht das Kapital, das ihn per Preiserhöhung abschöpft.
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