Der Hungerkünstler

Am Schauspiel Köln wurde der Roman »Atemschaukel« der Nobelpreisträgerin Herta Müller in Szene gesetzt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Gemächlich rieselt der Schnee auf die Bühne und hängt sich in die Haare Leopold Aubergs. Arbeit und Hunger verschließen den Protagonisten vor der Schönheit der ihn umspielenden Flocken. Durch die Kälte wird jeder Spatenstich im Arbeitslager Nowo-Gorlowka, den die deportierten Rumäniendeutschen in der Silvesternacht tun, erschwert. Sie sind nach Stunden kaum eine Hand tief in den gefrorenen Boden eingedrungen, berichtet Leo. Da erfahren sie den Zweck der Arbeit. Die Deportierten bereiten nicht die eigene Hinrichtung vor, sondern nur eine Schwarzpappelallee, die im Frühjahr gepflanzt werden soll. Der Erzähler zeigt sich erleichtert und zugleich enttäuscht, einem weiteren Jahr im Arbeitslager entgegenzublicken. Der Roman »Atemschaukel«, der in der Zeit von 1945 bis 1950 spielt, beschreibt den Hunger des jungen Mannes, der im Alter von 17 Jahren aus Siebenbürgen abtransportiert wurde.

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller verarbeitet in ihrem im Jahr 2009 erschienenen Buch die Erinnerungen des Lyrikers Oskar Pastior und anderer Deportierter aus der deutschen Minderheit in großen Allegorien. In ihrem Werk setzt sich die in Rumänien geborene Autorin vornehmlich autobiografisch motiviert mit der Ära Ceauşescus auseinander. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auch ihre Mutter in ein sowjetisches Arbeitslager gebracht, um als Deutsche stellvertretend Reparationen zu leisten. Getrieben von Fernweh, sieht der 17-jährige Leopold seinem Abtransport erwartungsvoll entgegen. Überall sei es besser als in der Kleinstadt, »wo alle Steine Augen hatten«. Er habe nicht gewusst, was auf ihn zukommen würde, korrigiert der um 30 Jahre gealterte Erzähler, den der Schauspieler Martin Reinke verkörpert. Von den sechs Darsteller*innen, die zur Uraufführung des Romans am Schauspiel Köln auf der Bühne stehen, verbleibt er allein in seiner Rolle. Er betrachtet die Reliquien der Zeit und blickt zurück auf den zehrenden Hunger, der ihn noch immer im Würgegriff hält. Die weiteren Spielenden begeben sich mal in die Rolle des Protagonisten, mal berichten sie von den weiteren Figuren.

Chronologisch folgt die textorientierte Inszenierung von Regisseur Bastian Kraft den einzelnen Kapiteln: Zement, Asphalt und Schlacke schaufelt der Inhaftierte. Sein ständiger Begleiter ist der Hungerengel, der eine naheliegende, theatrale Übersetzung findet. Schauspieler Nikolaus Benda hängt in der Luft und spannt eine Folie über die gesamte Breite der Bühne an den Seiten wie Flügel auf. Dann flattert er. Die emotional aufgeladene Musik von Björn Deigner verstärkt noch die pathossatte Symbolsprache.

Der schlichten Wiedergabe des Romans überlegen sind die subtileren Bühnenhandlungen, in denen die Last der zermürbenden Arbeit steckt. Stefko Hanushevsky und Katharina Schmalenberg schleppen Kühlschränke und den später entfalteten Folienballen über die Bühne des Depots 1. Nicht mal der Schnee im Lager fällt von selbst, sondern wird beständig wie beim Glockenläuten hinuntergetrieben. In der Spiegelsäule multiplizieren sich die Flocken, bevor sie auf den darin eingeschlossenen Schauspieler Justus Maier fallen. Auf der weiten Fläche umgrenzt ihn der enge Schacht und trennt ihn ab von seinen Kolleg*innen. Nur sein vervielfältigtes Gesicht sieht er in den Wänden und fängt seinen Blick im Spiel mit der Handkamera ein. Seine taumelnd drehenden Bewegungen erscheinen auf der riesigen Projektionsfläche im Hintergrund, die mit der voranschreitenden Selbstauflösung Leos in Fragmente zerteilt wird.

Nur einmal in den zwei Aufführungsstunden verlässt Maier die klaustrophobische Metapher. Auf dem Markt findet der Deportierte zehn Rubel, aber die davon erworbenen Nahrungsmittel kann er nicht bei sich behalten. »Das Lager hält mich eingesperrt zu meinem Wohl«, steigert sich der Gescheiterte in die eigene Gefangenschaft hinein.

Mit sich im Spiegelschacht führt der junge Erzähler seinen Koffer, der das Seinige in sich birgt: »Alles, was ich habe, trage ich bei mir.« Galoschen, einen roten Seidenschal, später kommt ein weißes Taschentuch hinzu. Es ist das Geschenk einer Ukrainerin, gespielt von Birgit Walter, die im jungen Mann den eigenen Sohn erkennt. Darin verselbstständigt sich der Satz »Ich weiß, du kommst wieder«, den die Großmutter Leo als Versprechen mit ins Lager gab. Das Taschentuch und die anderen Dinge verhalten sich menschlich zum Erzähler. Sie kümmern sich um ihn, werden zärtlich oder widersetzen sich. Von den Lagerinsassen aber berichtet er als distanzierter Beobachter.

So sprechen auch die Darsteller*innen einsam nebenher und blicken eher zu der beweglichen Kamera im Schnürboden als zu den Mitspielenden. Diese Trennung zerstückelt die Vorgänge und führt im Kapitel »Der Kriminalfall mit dem Brot« zu einem brachialen Bild. Ein Deportierter stahl dem anderen das gesparte Brot unter dem Kopfkissen weg. Angesichts dieser Erkenntnis übernimmt der Hunger, und sie schlagen den Dieb fast tot. Mit jedem Hieb knallt Hanushevsky einen geflochtenen Zopf gegen den Kühlschrank, immer auf die gleiche, sich weiter vertiefende Delle.

Der an sprachlichen Neuschöpfungen reiche Roman ist in Krafts Inszenierung angenehm zusammengekürzt. Doch er bleibt das bestimmende Element. In manchen Einfällen überträgt sich die düstere Atmosphäre in eine gelungene Bühnenhandlung. Aber oft bleibt die Inszenierung nur bebilderndes Erzähltheater in wechselnder Aufstellung, das dem Text wenig zu entgegnen hat.

Nächste Vorstellungen: 2., 9., 12. und 24.11.

www.schauspiel.koeln

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