Wird das 1,5-Grad-Ziel am Leben erhalten?

Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Klimadiplomatie der Staaten

  • Christian Mihatsch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir haben bereits 1,2 Grad erreicht, Tendenz steigend«, sagte UN-Generalsekretär António Guterres vor wenigen Wochen bei der Vorstellung des ersten Teils des neuen Berichts des Weltklimarats IPCC zum Stand der Erderwärmung. Die Welt ist also nicht mehr weit davon entfernt, die Marke von durchschnittlich 1,5 Grad Celsius globaler Erwärmung zu überschreiten, was laut dem Pariser Klimaabkommen von 2015 möglichst nicht geschehen soll.

Bei der am Sonntag beginnenden 26. Weltklimakonferenz (COP 26) im schottischen Glasgow müssten daher eigentlich alle Regierungen ein neues und ehrgeizigeres nationales Klimaziel einreichen. Doch das haben nur 165 von 192 Staaten getan. Es fehlen ausgerechnet Emissionsschwergewichte wie China, Indien und Saudi-Arabien. Hinzu kommt, dass Australien, Brasilien, Mexiko und Russland neue Ziele eingereicht haben, die keine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung zu den alten darstellen. Das Resultat: Mit den vorliegenden Plänen werden die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 16 Prozent im Vergleich zum Jahr 2010 steigen. Dabei müssten die Emissionen um 45 Prozent sinken, damit das 1,5-Grad-Ziel erreichbar bleibt.

Aber auch die Industriestaaten haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Beim UN-Gipfel in Kopenhagen im Jahr 2009 versprachen sie, ab 2020 ärmere Länder mit 100 Milliarden US-Dollar beim Klimaschutz und bei der Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen. Doch dieses Ziel wurde verfehlt und gemäß eines neuen Finanzplans wird es wohl erst 2023 erreicht. Das bis dahin fehlende Geld soll zu einem Teil später nachgereicht werden. Für Jan Kowalzig von der Entwicklungsorganisation Oxfam dürfte die Knausrigkeit politische Folgen haben: »Dass das Versprechen der reichen Länder nicht gehalten wurde, dürfte eine schwere Hypothek für die UN-Klimakonferenz werden.« Dadurch mangele es den Industriestaaten als Gruppe an Glaubwürdigkeit.

Hinzu kommt, dass die USA als weltweit zweitgrößter Treibhausgasemittent die Erwartungen wohl nicht erfüllen werden. Präsident Joe Biden wird sein zweites Infrastrukturpaket nicht vor Konferenzbeginn durchs Parlament bekommen. Das heißt, dass die USA nach dem Abgang Donald Trumps zwar ein relativ anspruchsvolles Klimaziel haben, aber nicht die Mittel, um dieses umzusetzen. Auch Gastgeber Großbritannien hat ein Problem: Das Land hat zwar seine Klimamittel für arme Staaten erhöht, aber gleichzeitig die Ausgaben für die Entwicklungshilfe reduziert. Im Jahr 2015 in Paris war aber vereinbart worden, zusätzliche Gelder bereitzustellen. Aus Sicht von Reimund Schwarze vom Helmholtz-Institut für Umweltforschung in Leipzig haben deshalb in erster Linie die USA und Großbritannien ein »Glaubwürdigkeitsproblem«. Der britische Konferenzpräsident Alok Sharma - der konservative Politiker hat etwa die Funktion eines Kanzleramtschefs in Deutschland - sagte angesichts dieser Ausgangslage: »Es ist, als ob man das Ende der Prüfung erreicht und noch die schwierigsten Fragen übrig sind, die Zeit davonläuft und man sich fragt: ›Wie beantworten wir diese Fragen?‹« Die wichtigste ist für Sharma, wie man das 1,5-Grad-Ziel »am Leben erhält«.

Darüber wird allerdings in Glasgow nicht direkt verhandelt, sondern die Länder setzen sich freiwillig anspruchsvollere Klimaziele. Wenn diese nicht ausreichen, braucht es einen noch fehlenden Mechanismus, der dafür sorgt, dass die Länder nachlegen. »Was wir den Ländern sagen werden, ist: Wenn euer Klimaplan nicht gut genug ist, dann müsst ihr (mit einem besseren Plan, d. Red.) wieder zum Verhandlungstisch kommen«, sagt Sharma. Zudem sollen die Länder klarer auf das 1,5-Grad-Ziel verpflichtet werden. In Paris haben die Länder nur versprochen, die Erwärmung bei »deutlich unter zwei Grad« zu stoppen. Durch weitere »Anstrengungen« soll sie möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden. Wie die Nachbesserung der Klimapläne und die Verpflichtung auf das anspruchsvollere Temperaturziel vereinbart werden können, ist aber nach wie vor unklar.

Lücken gibt es indes nicht nur bei den Klimazielen der Länder und bei den Klimahilfen, sondern auch in der Bedienungsanleitung für das Paris-Abkommen. In dieser fehlt noch der genaue Umgang mit der Übertragung von Emissionsminderungen zwischen Staaten, wie es in Artikel 6 des Pariser Abkommens vorgesehen ist. Einige Länder, wie die Schweiz, wollen ihre Klimaziele erreichen, indem sie Projekte zur Emissionsreduktion in anderen Ländern unterstützen und sich dies gutschreiben lassen. Dazu müssen die Länder in formellen Verhandlungen vereinbaren, wie solche Projekte jeweils angerechnet werden, damit dies nicht doppelt geschieht. Diese Verhandlungen waren bereits bei zwei UN-Gipfeln vor allem an Brasilien gescheitert, das besonders lockere Regeln wünscht, um die eigene Klimabilanz schönrechnen zu können. Jetzt aber deutete der Leiter der brasilianischen Verhandlungsdelegation, Leonardo de Athayde, Kompromissbereitschaft an: »In allen Gesprächen mit anderen Delegationen haben wir klar signalisiert, dass wir flexibler sind«, sagte er.

Doch es geht in Glasgow nicht nur um Verhandlungen zwischen den Regierungen. Auch andere Akteure wollen die große Bühne nutzen, eigene Klimainitiativen zu lancieren. Bundesstaaten und Städte, internationale Organisationen sowie Teile der Wirtschaft werden Ankündigungen zu den Themen »coal, cars und trees« machen. »Kohle, Autos und Bäume« sind die erklärten Prioritäten der britischen Konferenzgastgeber. Doch ohne entschiedenes Handeln auf Ebene der Nationalstaaten wird das 1,5-Grad-Ziel nicht »am Leben erhalten« werden können.

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