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Arbeitskampf als Frauensache
Zum Ende des 19. Jahrhunderts existierte in Deutschland etwas, das es heute nicht mehr gibt: Eine Frauengewerkschaft. Eine der Protagonistinnen in der Organisierung der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen war die Gewerkschafterin Paula Thiede
Dass immer mehr jüngere Männer ihre Publikationslisten erweitern, indem sie sich der Historischen Frauenforschung widmen, verdient ein großes Lob. Ohne die neuen Frauenbewegungen der 1968er und 1970er Jahre, die die Frauenforschung zunächst in den Sozialwissenschaften und dann in anderen Disziplinen etablierten, wäre das wohl kaum passiert. Noch im August 2020 wurde ich in einem Interview nach dem Stellenwert der Frauengeschichte innerhalb der »seriösen« Geschichtswissenschaften gefragt. Denn die »allgemeine« Geschichtswissenschaft ist bekanntlich lange Zeit ohne die »Frauengeschichte« ausgekommen und sie ist auch heute leider noch oft aus den »seriösen« Wissenschaften wegzudenken. Aber was ist eine »seriöse« Wissenschaft, wenn sie die Arbeiterinnen vergisst? Wenn sich das durch das Eindringen der Männer in die Historische Frauenforschung ändert, ist das besonders für die Geschichte der Arbeiterinnenbewegung ein großer Fortschritt, denn die wird auch von den bürgerlichen Wissenschaftlerinnen allzu oft vernachlässigt, weil sie eben über die bürgerlichen Frauenbewegungen forschen.
Paula Thiede war eine der beinahe vergessenen Frauen, die zwar von Frauenforscherinnen schon aus der Vergessenheit geholt war, aber deren Wirken, außerhalb ihres frauenpolitischen Engagements, noch wenig erforscht war. Paula Thiedes frauenpolitischer Kampf wurde möglich durch die Handlungsmacht der gut organisierten Hilfsarbeiterinnen im Druckgewerbe. Schließlich war sie selbst nicht nur Arbeitertochter, sondern arbeitet auch in einer Druckerei als Hilfsarbeiterin (Anlegerin). Bereits 1889 war sie Mitgründerin des »Vereins der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen« und wurde 1892 in dessen Vorstand gewählt. Gemeinsam mit solidarischen KollegInnen entwickelte sie Strategien, um die Anliegen von Gleichberechtigung und Gewerkschaftsarbeit zu verbinden und Fraueninteressen erfolgreich zu vertreten.
Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin und Gewerkschafterin. Soeben erschien ihr Kalender »Wegbereiterinnen«. Die Ausgabe für das Jahr 2022 ist die 20. seit 2003. Die Gewerkschafterin Paula Thiede war im Kalender bereits 2012 gewürdigt worden.
In der Forschung, die diesem Buch zugrunde liegt, geht Uwe Fuhrmann nicht nur dem Lebensweg von Paula Thiede und ihrer Kolleginnen nach, er zeichnet auch die Geschichte einer außergewöhnlichen Gewerkschaft im Deutschen Kaiserreich nach. Das ist die Geschichte des 1898 durch den Zusammenschluss der Frauengewerkschaft »Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruckpressen« und dem Berliner Lokalverein der Hilfsarbeiter im Buchdruckgewerbe entstandenen geschlechtsübergreifenden »Verbands der Buch- und Steindruckereihilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands«. Die Frauengewerkschaft von 1892 bezeichnet Fuhrmann als Grundstein für diese. Paula Thiede wurde bereits bei der Gründungsversammlung zur ersten Vorsitzenden gewählt. Das war ein Novum in der frühen Gewerkschaftsbewegung
Feminismus oder Universalismus?
Was irritiert, ist der Buchtitel: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung. Wie Fuhrmann richtig vermerkt, haben weder Paula Thiede noch ihre Mitstreiterinnen den Begriff »Feminismus« gebraucht. Das ist nicht verwunderlich, denn Feministinnen waren damals die Frauen aus der bürgerlichen Frauenbewegung, die die gleichen Rechte wie »ihre« Männer forderten und nicht bereit waren, den Kampf der Arbeiterinnen um volle soziale und menschliche Emanzipation zu unterstützen. Die Trennlinie verlief zwischen Feminismus und Sozialismus und es dauerte bis in die Jetztzeit, bis sich Gewerkschafterinnen als Feministinnen bekannten.
Heute ist Feminismus kein eindeutiger Begriff, es gibt viele Feminismen und man kann Laurie Pennys Deutung zugrunde legen und feststellen, dass Paula Thiede, Clara Zetkin und viele andere aus der gewerkschaftlichen und sozialistischen Frauenbewegung feministisch gehandelt haben. Man sollte sie jedoch aus ihrer Zeit verstehen und nicht nachträglich zur Feministin stempeln. Und ob Paula Thiede »keine Revolution gefordert« hat (S. 25), wissen wir nicht, denn wie Fuhrmann selbst beschreibt, haben sich die »Hilfsarbeiterinnen intensiver am ›Kampf zwischen Kapital und Arbeit‹« beteiligt, »als die weiblichen Mitglieder anderer Gewerkschaften. Thiede stand auch nicht im Gegensatz zu Clara Zetkin und Ottilie Baader, die sich (zunächst) gegen Frauenvereine aussprachen, denn auch sie entschloss sich für den gemeinsamen Kampf, nachdem immer mehr Männer in ihren Arbeitsbereich eindrangen.
Und sie hat - nicht zu vergessen und von Fuhrmann im Schlusskapitel vermerkt - auf der Konferenz der Sozialistischen Fraueninternationale 1910 gemeinsam mit Clara Zetkin und Gertrud Hanna für den Internationalen Frauentag, wie er heute noch heißt, eingesetzt. Der Begriff Weltfrauentag kam erst später hinzu. Die Frauen vereinte eine intersektionale Perspektive, denn ihnen ging es um den «Kampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeutenden, ebenfalls ohne Unterschied des Geschlechts», wie Ottilie Baader bei der ersten Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen unter dem Vorsitz von Clara Zetkin 1907 in Stuttgart bereits hervorgehoben hatte. An der intersektionalen Perspektive orientiert sich auch der Autor (S.18). Die intersektionale Perspektive gibt es schon lange. Der Begriff kam erst in jüngster Zeit - erstmals 1980 gebraucht durch die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw von den USA nach Deutschland.
Das vorliegende und auf jeden Fall bemerkenswerte Buch über die Geschlechterfrage in der frühen Gewerkschaftsbewegung vermittelt einen Einblick in die Lebens- und Arbeitswelt der Proletarierinnen, die vielfältigen Machtverhältnissen durch kapitalistisch-patriarchale Strukturen ausgesetzt waren. Fuhrmann zählt dazu nicht nur Staat, Gesellschaft und Familie, sondern auch die durch Männer geprägte Gewerkschaftswelt. Das ist ein weites Feld. Um das zu bearbeiten, hat sich der Autor sowohl mit historischen Quellen als auch mit in jüngerer Zeit erschienenen Veröffentlichungen auseinandergesetzt. Und er bleibt nicht beim Aufzeigen der Schwierigkeiten, sondern hebt auch die Erfolge der Frauen hervor. Da ist vor allem das erarbeitete Selbstbewusstsein der Funktionärinnen zu nennen und deren «Übernahme echter Verantwortung (S. 63, Hervorhebung durch den Autor). Ausdrucksvoll beschrieben ist der große reichsweite Streik der Buchdrucker von 1891, den die Hilfsarbeiterinnen unterstützten, weil sie ihn mit der Hoffnung auf die Verbesserung ihrer eigenen Arbeitsbedingungen verbanden und weil sie solidarisch mit den Kollegen waren.
Lernprozesse bis in die Gegenwart
Als Technik der Emanzipation wird dem Arbeitsnachweis ein Kapitel gewidmet, mit dem die Lohnabhängigen die Stellenvermittlung in eigene Hände genommen haben und sich gegen Lohndrückerei und Betrug gegen die Vermittlungsvorgänge verteidigten. Nicht immer wurden die Frauen in gleicher Weise von solidarischen Männern unterstützt, aber auch hier erwirkten sie Lernprozesse. Letztlich waren es Männer, die Paula Thiede wählten. »Normale Arbeiter aus normalen Familien«, wie Fuhrmann betont (S. 143), waren es auch, die ein »bemerkenswertes solidarisches Bewusstsein und Verhalten« entwickelten, was er an mehreren Beispielen verdeutlichen kann. Verdienstvoll ist auch, dass in dem Buch weitere Protagonistinnen, wie Ida Altmann, Gertrud Emma, Antonie Hanna und etliche andere Frauen gewürdigt werden. Schließlich geht es auch um den Einfluss der Überzeugungsarbeit, der von den Frauen der Frauengewerkschaft »Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpresse« ausging, ohne den die Gesamtgewerkschaften vielleicht heute noch anders aussehen würden.
Mit dem Buch über die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede wurde eine Geschichte aufgeschrieben, die auch heute erstaunlich aktuell ist, wenn es um die Frage nach Gleich- und Ungleichbehandlung im Sinne der Emanzipation geht. Noch lange haben wir nicht die volle Gleichberechtigung erreicht. Es gilt also weiterzukämpfen. Es geht darum, alte verkrustete Strukturen aufzubrechen. Dass das Buch nicht nur zur Erinnerung an die kämpfenden mutigen Frauen zu Beginn der Gewerkschaftsbewegung Anlass bieten sollte, sondern auch zur Ermutigung, darauf weist Cornelia Berger bereits im Geleitwort hin: »Nicht nachlassen, sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und das, was uns zusteht, einfordern, jetzt sofort.«
Uwe Fuhrmann: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890-1914). Die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede. Transcript-Verlag, 216 S., br., 24,99 €.
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