- Wirtschaft und Umwelt
- Klimakrise und Kapitalismus
Alles schon mal da gewesen?
Das Klima prägt die menschliche Zivilisation seit Jahrhunderten - und umgekehrt. Bedeutend in diesem Szenario ist schon früh der Kapitalismus
Bis Ende Juli war es glühend heiß. Eine schreckliche Wasserknappheit plagte das Land, und die Menschen litten Hunger, weil die Mühlen stillstanden. Die Früchte an den Bäumen, Birnen, Äpfel und Walnüsse, vertrockneten, auch Trauben an den Rebstöcken. Viele Rinder verdursteten.« Diese Beobachtungen von Hans Stolz, einem Winzer im elsässischen Guebwiller, liefern einen lebensnahen Eindruck von der Schwere der monatelangen Megadürre, die im Sommer 1540 - vor einem halben Jahrtausend - große Teile Europas verheerte. Aufgrund der extremen Bodentrockenheit stiegen die Höchsttemperaturen auf über 40 Grad an. Wald- und Siedlungsbrände waren weitverbreitet, Flüsse trockneten aus.
Achillesferse Energiegewinnung
In ihrem Buch über den Zusammenhang von Klima und Gesellschaft fanden der Berner Historiker Christian Pfister und der Klimatologe Heinz Wanner, lange Mitglied des UN-Klimarates IPCC, nun heraus: »Prämoderne Gesellschaften waren gegenüber solch extremen Bedingungen erstaunlich widerstandsfähig«. Für diese Widerstandsfähigkeit gibt es viele Gründe, unter anderem die Krisenresistenz leidgeprüfter Generationen, die geringe Bevölkerungsdichte oder die noch vergleichsweise natürliche Umwelt. Ein wichtiges Moment ist allerdings die Antwort der Menschen auf Naturkatastrophen, vor allem bei der Energiegewinnung: So ersetzten nach der Dürre im Sommer 1540 vermehrt Windmühlen und von Menschenhand oder von Rind- und Pferdestärken angetriebene Mühlen die vorher benutzten Wassermühlen.
»Energie ist bekanntlich die Achillesferse der modernen Volkswirtschaften«, schreiben Pfister und Wanner. Der größte Teil der Auswirkungen eines Super-GAUs wie dem von 1540 auf die heutigen Gesellschaften würde durch die resultierende Wasserknappheit und die Folgen für alle miteinander verbundenen technischen Systeme verursacht werden. Insbesondere die fossile und nukleare Energieerzeugung, die von einer ausreichenden Menge an Kühlwasser abhängig ist, wäre erheblich betroffen. Ein solcher Mangel könnte zu lange anhaltenden Stromausfällen führen und damit die Gesellschaften und Volkswirtschaften stark in Mitleidenschaft ziehen.
Wetterkapriolen, Naturkatastrophen und Klimawandel begleiten also die Menschheitsgeschichte der letzten 1000 Jahre, dem Untersuchungszeitraum der Autoren. Allerdings sind Messreihen der Temperaturen in Europa erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts verfügbar. Doch die junge Wissenschaft der Klimageschichte greift auf »Archive der Natur« zurück: Baumringe, Eisbohrkerne oder Ablagerungen in Tropfsteinhöhlen beispielsweise. Historiker wie Pfister, Autor des fulminanten Vorläuferbandes »Wetternachsage«, ergänzen die Proxydaten der Naturwissenschaftler um Aufzeichnungen von Stadtkämmerern, Daten über Wein- und Getreideernten, die bis in die Antike zurückreichen, oder Hochwassermarken an Gebäuden.
Sowohl Simulationen als auch Rekonstruktionen anhand von Daten aus den Archiven der Natur zeigen einen Wärmegipfel zwischen den Jahren 900 und 1050. Beim Verlauf der Sommertemperaturen fällt eine fast durchgehende 140-jährige Abfolge von warmen Jahreszeiten von 1170 bis 1310 auf, die innerhalb der letzten 1000 Jahre einzigartig sei. Sie wurde durch kurze extreme Rückschläge unterbrochen, außerdem 1258 durch ein »Jahr ohne Sommer«, dies nach dem Ausbruch des Vulkans Samalas. Vom frühen 14. Jahrhundert an sanken die Temperaturen auf ein tieferes Niveau. Die »Kleine Eiszeit« dauerte bis 1900. Daran schließt im kurzen 20. Jahrhundert eine Periode der langsamen anthropogen, also menschengemachten Erwärmung an. Sie endet um 1988, als die Temperaturen sprunghaft auf das Niveau der Warmperiode der Gegenwart ansteigen.
Die Wechselwirkung von Wetter, Klima und menschlicher Geschichte veranschaulicht ein Rückblick auf die Hochzeit der Hanse. Der wirtschaftliche Aufschwung dieses europäischen Handelsnetzes wurde durch das sogenannte Mittelalterliche Klimaoptimum angetrieben. Die im Schnitt um ein oder zwei Grad erhöhten Temperaturen erlaubten bis 1500 satte Ernten: In den Mittelgebirgen konnte bis weit in die Höhe Getreide angebaut werden, die Vegetationsperiode im kälteren Osten Europas wurde länger, der Weinanbau florierte am Niederrhein ebenso wie in Schottland und weite Küstenabschnitte Grönlands waren eisfrei. Wikinger fanden dort grüne Weiden vor und gaben der Insel ihren Namen: Grünes Land.
Kapitalismus und Innovation
Zur Agrarrevolution und zur urwüchsigen Akkumulation für den aufkeimenden Kapitalismus trug »natürlich« nicht allein das Klima bei, sondern auch subjektive Faktoren wie der Erfindungsreichtum einzelner Bauern und Lehnsherren, die auf den rasanten Klimawandel schnell reagierten. Die gebräuchlichen Pflüge waren bisher von schweren Ochsen gezogen worden und konnten die Erdkruste nur notdürftig aufreißen. Mit dem neuartigen Wendepflug können fortan Unkraut, Getreidestoppeln und Dünger - eine weitere Neuerung - untergepflügt werden. Dank einem neuem Geschirr, dem Kummet, können die wirtschaftlicheren Pferde als Zugtiere eingesetzt werden. Dreifelderwirtschaft verhindert, dass die Erde auslaugt (was zu Hitzesommer beiträgt), und der Anbau von Bohnen und Erbsen behebt den Eiweißmangel in der Ernährung, der die Menschen und ihre Arbeitskraft schwächt.
Die besseren Ernten genügen nun, um mehr als den persönlichen Bedarf der Hausgemeinschaft zu decken. Trotz zeitweiliger und regionaler Missernten und Hungersnöten bleibt den Bauern und Lehnsherren nun im Regelfall ein Überschuss - ohne dieses Mehrprodukt wäre kein überregionaler Handel möglich. In der Folge begünstigt der Handel und der damit entstehende Markt wiederum die Landwirtschaft. Bis dahin musste die Hauswirtschaft als Selbstversorger alle Lebensmittel selbst anbauen und alle handwerklichen Produkte selbst herstellen. Nun können beispielsweise Fleisch oder Wein zugekauft werden.
Ein »Neuer Markt«
Es folgen seit dem Jahr 1100 berufliche Spezialisierungen und daraus noch höhere Erträge. Beispielsweise im Bordelais in Südwestfrankreich wird der Weinanbau kultiviert, und am anderen Ende des Kontinents, im späteren Polen und Preußen, konzentriert sich die Landwirtschaft seither auf Getreideanbau. Damit waren Bedingungen gegeben, um den geringen Luxushandel, mit dem sich Europa seit der Antike begnügt hatte, zu einem Massenhandel anschwellen zu lassen. Zugleich hatten Klima- und Agraraufschwung für die notwendige Zahl an Kunden für die Hansekaufleute gesorgt, denn auch die Bevölkerung in Europa nimmt rasant zu. Im wörtlichsten Sinne entstehen neue Märkte, Jahrmärkte wie in Brügge, die von Bauern aus der Umgebung, Händlern von Nah und Fern bedient werden.
Auch die Bevölkerung des Regnum Teutonicum wuchs zwischen den Jahren 1000 und 1300, von etwa 3,5 auf 13 bis 14,5 Millionen Einwohner, schätzt Hanseforscher Rolf Hammel-Kiesow. Politische Faktoren begünstigten das Entstehen des »Neuen Marktes« namens Hanse (Anspielung auf den Neuen Markt der Dotcom-Aktiengesellschaften um 2000, daher als Begriff großgeschrieben; Anm. des Autors). So wurden die blutigen Einfälle der Nordmänner und Ungarn selten, auch weil die landwirtschaftlichen Erträge in deren Heimat wuchsen.
Die Kehrseite des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Hansezeit waren Abertausende CO²-intensive Kohlemeiler und Eisenhütten, Millionen neue Haushalte, die Holz verfeuerten, abgeholzte Wälder in weiten Teilen Europas, später versteppte Agrarflächen und Monokulturen. Alles Faktoren, die wiederum auf (lokales) Wetter und Klima Einfluss nehmen. Woraufhin wiederum Menschen - durchaus klimarelevant - reagierten. Seit der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz mit dem Werk »Sylvicultura oeconomica« 1713 eine »continuirliche und nachhaltende Nutzung« des Waldes etablierte, wird grundsätzlich für jeden gefällten Baum ein neuer gepflanzt. Flüsse wie der Rhein wurden begradigt und reguliert, um den Wasserzufluss zu sichern und Neuland zu erschließen. Das rottete die Malaria in deutschen Landen aus. Gleichzeitig wurde geradezu sprichwörtlich häufig »zu nah am Wasser gebaut« - Wetterunbilden wurden häufig erst dadurch zu menschlichen Tragödien.
Stabilität als Ausnahme
Die heutige wechselseitige, dialektische Einflussnahme von Mensch und Klima hat also eine lange Vorgeschichte. Dazu kamen und kommen »exogene Faktoren«, wie Veränderungen der Erdbahnparameter, Schwankungen der Sonnenaktivitäten oder große Vulkanausbrüche. Auf diese bunte Vielschichtigkeit hinzuweisen, die wir hier nur anblättern können, ist das ganz große Verdienst dieses reich illustrierten Bandes. Nicht jede Hitzewelle oder jeder schneereiche Winter ist ein Menetekel oder gar von Menschenhand verursacht. Wetter und Natur kennen ein eigenes Auf und Ab, kalte und warme Phasen wechseln sich ab, Stabilität ist der Ausnahmezustand, in Klima und Gesellschaft.
Christian Pfister/Heinz Wanner: Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre. Haupt-Verlag, 424 S., geb., 49 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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