- Wirtschaft und Umwelt
- Corona-Impfpflicht
Dringend nötig oder überschätzt?
Die Kontroverse um eine Impfpflicht für Pflegekräfte verschärft sich. Vor allem die Bundespolitik wiegelt ab
Nach erneuten Covid-19-Todesfällen in zahlreichen deutschen Pflegeheimen kocht die Diskussion um eine Impfpflicht für Mitarbeiter von Krankenhäusern und Pflegeheimen hoch.Vor allem Vertreter der Lokal- und Landespolitik sind eher aufgeschlossen, was eine entsprechende Verpflichtung angeht. Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Stefanie Drese (SPD) fordert dies explizit. Es sei ihr Ziel, »eine Impfpflicht für Pflegepersonal rechtssicher hinzube kommen«, sagte sie. Dies müsse aber bundesweit im Infektionsschutzgesetz geregelt werden.
Ähnlich vehement äußern sich etliche Mediziner in der Frage. So hält Hausärztechef Ulrich Weigeldt den bisher kategorischen Ausschluss einer Impfpflicht für den »größten Fehler in der Corona-Politik«. Pflegekräfte sollten geimpft sein. »Wer nicht geimpft ist, kann und sollte nicht in Alten- und Pflegeheimen arbeiten«, sagte der Verbandschef der »Wirtschaftswoche«. »Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, wenn ich mich um schwerstkranke und besonders gefährdete Menschen kümmere.« Auch der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), An-dreas Gassen, befürwortet dies: Obwohl er generell gegen eine Impfpflicht sei, sei dies beim Pflegepersonal berechtigt. Zumindest solle nicht-geimpftes Personal keinen Kontakt mehr zu Patienten haben. Eine Impfpflicht sei aber eine politische Entscheidung.
Unterstützung dafür kommt ebenfalls von einzelnen Wissenschaftlern, so von Frank Hufert, Virologe an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane. Er hält eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen für angebracht und nennt Menschen, die Hochrisikogruppen wie etwa Senioren betreuen.
Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Nordrhein-Westfalens Regierungschef Hendrik Wüst (CDU), hält wenig von der Forderung. Er glaube immer noch daran, »dass die allermeisten Menschen in Pflegeheimen, die dort arbeiten, selbst wissen, dass eine Impfung klug ist«, sagte er. Ähnlich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der auf eine moralische Verpflichtung setzt. Er warnt zudem: »Wenn 50 Prozent des Pflegepersonals sagt, dann bin ich hier weg, dann haben wir ein Problem.« Die relativ niedrige Impfquote, die der Minister hier nennt, bezieht sich auf ein Pflegeheim in Brandenburg, das nach einem tödlichen Corona-Ausbruch bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Eine so niedrige Quote wird indes eher als Ausnahme angesehen.
Laut dem jüngsten Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts hat es seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 bereits mehr als 6500 Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gegeben. 23 850 Menschen seien dabei gestorben. Zuletzt nahm die Zahl der Ausbrüche wieder deutlich zu, sie liegt aktuell bei 122.
Erneut gegen eine Impfpflicht für das Personal hat sich Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, ausgesprochen. Zwar mache ihn insbesondere der jüngste Corona-Ausbruch in dem Seniorenheim in Brandenburg fassungslos, womit er aber eher den Leiter meinte, der trotz positiver Covid-19-Testung seinen Arbeitsplatz aufsuchte. Westerfellhaus befürchtet, dass die Einführung einer Impfpflicht dazu führen könne, dass eine Verweigerungshaltung entstehen und sich das Personal etwa verstärkt krankschreiben lassen könnte.
Diese Äußerung zeigt: Das größte Gewicht bei den Argumenten gegen eine Impfpflicht haben nicht etwa medizinische Fakten wie die Ansteckungsgefahr auch durch Geimpfte, sondern Befürchtungen, dass sich die Berufsflucht der Pflegekräfte noch verstärken würde. Für einen solchen Effekt sprechen Umfragen, laut denen sich ein großer Teil der aktuell noch nicht geimpften Menschen auf keinen Fall mehr immunisieren lassen will. Für die Beschäftigten, die eine Impfung nicht akzeptieren, könnte der Druck in diese Richtung ein weiterer Faktor sein, der zu den beruflichen Belastungen und der unzureichenden Anerkennung für ihre Leistungen noch hinzukommt und womöglich zur Kündigung führt. Hier liegen Versäumnisse der Politik, und es ist besonders bitter, wenn ausgerechnet die Ablehnung einer medizinischen Schutzmaßnahme dazu führt, dass sich die Gesundheitsversorgung und Pflegesituation weiter verschlechtert.
Auf dem Deutschen Ärztetag Anfang dieser Woche waren indes auch Stimmen zu hören, die angesichts einer nicht erreichbaren sterilen Immunität bei den Corona-Impfungen vor falschen Erwartungen in Zusammenhang mit einer Impfpflicht warnten. Da auch Geimpfte andere anstecken können, müsse das Testen besonders ernst genommen werden. Auch ein Beschlussentwurf der aktuellen Gesundheitsministerkonferenz sieht verpflichtende Testkonzepte für Pflegeeinrichtungen vor. Einige Bundesländer wie Brandenburg verschärfen aktuell die Testpflichten für das Personal von Pflegeheimen und Kliniken, andere wie Baden-Württemberg praktizieren das schon seit einiger Zeit.
Nicht ausreichen würde es, bei Pflegekräften nur auf die kürzlich angelaufenen Auffrischungsimpfungen, meint etwa Leif Erik Sander, Immunologe an der Berliner Charité. Allerdings sollten sie in einer koordinierten Booster-Kampagne zu den ersten gehören, die ein Impfangebot erhalten sollten.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.