Der neue Nachbar

Spaß und Verantwortung: Halloween muss ohne Olga Hohmann stattfinden

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich weiß nicht, ob es mit den sozialen Restriktionen der vergangenen Jahre, mit der US-amerikanisch geprägten Globalisierung oder mit einem steigenden Lustgewinn am Morbiden zu tun hat, aber in diesem Jahr sind mir so schaurige Halloween-Kostümierungen begegnet wie noch nie zuvor - und überhaupt wahnsinnig viele. Halloween ist mir nicht fremd. Wahrscheinlich gehöre ich, Anfang der 1990er Jahre geboren, zur ersten Generation in Deutschland lebender Kinder, die »Süßes, sonst gibt’s Saures« rufend von Haus zu Haus gezogen sind. Dabei trugen wir aber höchstens ein paar Vampirzähne und einen schwarzen Umhang, im besten Fall noch eine geschminkte rote Träne unter dem Auge. Gruselig sahen wir nicht aus, eher niedlich und harmlos genug, als dass man uns gerne ein paar übrig gebliebene Süßigkeiten zusteckte.

Seit meiner Kindheit beobachte ich also diesen Feiertag - der in Deutschland ungefähr so alt ist wie ich selbst -, wie er sich langsam, aber sicher etabliert. Er wird, wie ich, im Schneckentempo erwachsen. Praktiken der Geisterbeschwörung und -vertreibung haben mir schon immer gut gefallen. Außerdem habe ich eine Affinität zur US-amerikanischen Kultur. Insofern gefällt mir die Einbürgerung des Rituals. Und trotzdem kommt Halloween irgendwie nicht ganz in meinem emotionalen Feiertagskalender an. Ich konnte mir das Datum nie richtig merken, umso weniger, je näher der Tag rückte.

Spaß und Verantwortung
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.

Da ich die Existenz von Halloween also regelmäßig einmal im Jahr vergesse (und zwar pünktlich zu Halloween), wurde ich das gesamte vergangene Wochenende ständig auf der Straße oder in der U-Bahn wie aus heiterem Himmel erschreckt. Zum Beispiel als die Frau auf dem Platz neben mir plötzlich ihren Kopf hob und mich mit blutüberströmtem Gesicht anschaute oder als ich nachts auf der Straße ein leises Geräusch hinter mir hörte und sah, dass mir eine schwarz verhüllte Gestalt mit einer riesigen Sense aus echtem Metall folgte. Vor allem die Anzahl der Schwerverwundeten war dieses Jahr besonders hoch und die Verletzungen sehr elaboriert - Einschusslöcher in der Schläfe, täuschend echt aussehende Fleischwunden auf Stirn und Mündern, die zu einer blutigen Grimasse verzogen sind.

Natürlich gab es, wie immer, auch ein paar harmlosere Kostüme, Clowns und sexy Krankenschwestern, die allerdings zu später werdender Stunde auch immer grotesker (weil betrunkener) wurden. Besonders gefiel es mir, dabei zuzusehen, wie sich die verschiedenen Horrorcharaktere miteinander verhielten: Wenn zum Beispiel der Mann mit der blutigen Fleischwunde über dem Auge dem Typ im Sailor-Moon-Kostüm die langen Zöpfe hielt, während jener sich aus vollem Hals an einer Straßenecke übergab.

Die lustigste Erzählung lieferte mir meine Mutter, die in einem Kreuzberger Mehrfamilienhaus wohnt, in dem ansonsten vor allem Familien mit kleinen Kindern leben. Im Erdgeschoss war vor einem guten Monat ein neuer Nachbar eingezogen, ein alleinstehender Mann kurz vor der Rente. Der neue Nachbar hatte sich zu Halloween eine Art Initiationsritual überlegt: Er wollte sich mit Kreativität und süßen Gaben das Herz der Hausgemeinschaft erobern. Zu diesem Zweck legte er sich, in ein großes Leichentuch eingewickelt, in den Eingangsbereich des Wohnhauses und spielte die Rolle eines halb-mumifizierten Toten. Immer wenn ein Kind vorbeikam, pausierte er seine Totenstarre für einen Moment und streckte ein mit Schokoriegeln gefülltes Metallgefäß in Richtung der Vier- bis Zehnjährigen. Die aber meistens in Todesangst zurückschreckten und anfingen zu weinen. Mehrere Stunden lag der neue Nachbar fake-tot im Treppenhaus.

Und auch ich selbst war in eine Art spontane Todesstarre gefallen, als ich - schon fast auf dem Weg zu einer »legendären« Loftparty unter dem Motto »Fake it till you make it« - einfach eingeschlafen war. Mein todmüder Körper hatte sich über meinen FOMO (»Fear Of Missing Out«, also die Angst, etwas zu verpassen) schreienden Geist erhoben. Als ich am nächsten Morgen nach neun Stunden Tiefschlaf erwachte, erschreckte ich mich regelrecht darüber, wie gut ich mich fühlte. Ich hatte meine persönliche Geisteraustreibung vollzogen und FOMO durch JOMO (»Joy Of Missing Out«), die Angst durch die Freude daran ersetzt. Halloween wird wohl auch nächstes Jahr wieder ohne mich stattfinden.

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