- Berlin
- Milieuschutz
Richter pulverisieren Vorkaufsrecht
Bundesverwaltungsgericht unterbindet Ausübung aufgrund erwarteter Verdrängung
Das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten »darf von der Gemeinde nicht auf der Grundlage der Annahme ausgeübt werden, dass der Käufer in Zukunft erhaltungswidrige Nutzungsabsichten verfolgen werde«. So beginnt die am späten Dienstagnachmittag verschickte Pressemitteilung des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts. Es ist nicht nur der Schlusspunkt unter den Versuch des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, die Mieter der 20 Wohnungen des Hauses Heimstraße 17 am Dreifaltigkeitskirchhof nahe der Bergmannstraße vor Verdrängung zu schützen. Sondern es ist bis auf wenige Ausnahmen auch das Ende der Ausübung von Vorkaufsrechten in Milieuschutzgebieten, nicht nur in Berlin.
Die Leipziger Richter begründen ihr Urteil (BVerwG 4 C 1.20) vom Dienstag mit Paragraf 26, Satz 4 des Baugesetzbuches. Dort heißt es: »Die Ausübung des Vorkaufsrechts ist ausgeschlossen, wenn das Grundstück entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans oder den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme bebaut ist und genutzt wird«. Klarstellend heißt es in der Mitteilung des Bundesverwaltungsgerichts: »Die vom Oberverwaltungsgericht angestellte Prüfung, ob zukünftig von erhaltungswidrigen Nutzungsabsichten auszugehen ist, scheidet daher aus.« Eine Erwartungshaltung, wie ein Käufer aufgrund des Preises oder wegen bekanntgewordener anderer Fälle mit der Liegenschaft umgehen wird, darf demnach nicht der Maßstab für die Ausübung des Vorkaufsrechts sein.
»Aus der Mitteilung ergäbe sich, dass wir das Vorkaufsrecht erst dann ausüben dürften, wenn die Verdrängung bereits erfolgt ist«, sagt der Berlin-Neuköllner Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) zu »nd«. Bevor die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt, könne man allerdings nur Vermutungen anstellen.
»Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts lässt mich fassungslos zurück«, erklärt Berlins Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel (Linke). Das Gericht nehme den Kommunen so fast gänzlich die Möglichkeit, das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten auszuüben. »Das ist eine Katastrophe, nicht nur für die Mieter*innen in Berlin, sondern bundesweit«, so Scheel weiter. Ein Instrument zur Sicherung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung sei damit »so gut wie tot«. Der Bundestag müsse zügig eingreifen. »Mein Haus wird eine Bundesratsinitiative erarbeiten«, kündigt der Senator an.
Kurz zuvor bezeichnet Friedrichshain-Kreuzbergs Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) das Urteil bereits als »herben Schlag im Kampf gegen die Spekulation mit Wohnraum und gegen die Verdrängung von Menschen aus ihrer Nachbarschaft«. Ebenso alarmiert ist der Berliner Mieterverein. Mit dem Urteil würden die Versuche nicht nur Berlins torpediert, Mieterinnen und Mieter vor Verdrängung zu schützen, erklärt dessen Geschäftsführer Reiner Wild.
»Diese Gerichtsentscheidung gegen eines der letzten Schutzinstrumente lässt Zerstörung unsere Städte freien Lauf«, heißt es von der Initiative Bizim Kiez. Das Bündnis Deutsche Wohnen & Co enteignen erklärt, dass nun um so wichtiger sei, den erfolgreichen Volksentscheid zur Sozialisierung renditeorientierter Großvermieter umzusetzen.
Die designierte Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) reagiert hingegen in der RBB-Abendschau zunächst recht zurückhaltend. »Natürlich ist ein Gerichtsurteil erst mal zu respektieren. Wir müssen uns ansehen, was das für Auswirkungen auf Berlin hat und damit dementsprechend umgehen«, sagt sie.
Sibylle Meister, die Haushaltsexpertin der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, triumphiert. »Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zu begrüßen«, erklärt sie am Mittwoch. Für CDU-Landeschef Kai Wegner ist das Urteil nach dem »Mietendeckeldesaster« nun »die nächste Totalblamage« für Rot-Rot-Grün. »Wir brauchen in Berlin wieder vernünftige Lösungen auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft, um die Mietenkrise zu beenden«, so Wegner weiter.
Die Immobilienlobby kommt mit den üblichen Ratschlägen um die Ecke. »Die Berliner Politik sollte ihre sozialistischen Fantasien ad acta legen und sich stattdessen endlich um den Wohnungsneubau kümmern«, fordert Dirk Wohltorf, Vizepräsident des Immobilienverbands Deutschland.
Seit Jahren kämpft beispielsweise der Verein zur Förderung von Wohneigentum e. V. mit dessen ersten Vorsitzenden Jacopo Mingazzini gegen das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten in Berlin und Hamburg. Inzwischen hat der Verein eine ganze Reihe von Gutachten veröffentlicht, die das Instrument juristisch demontieren sollen. Mingazzini war jahrelang Vorstand des auf die Aufwertung und Aufteilung von Mietshäusern spezialisierten Unternehmens Accentro.
Klageführend in dem Verfahren war Anwalt Mathias Hellriegel. Er hatte die Pohl & Prym Grundstücksgesellschaft mbH in dem Verfahren vertreten. Sie wollte 2017 das Haus Heimstraße 17 für 3,4 Millionen Euro kaufen, der Bezirk übte jedoch zunächst das Vorkaufsrecht zugunsten der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte aus. Dagegen argumentiert hatten die Anwälte des zunächst verhinderten Käufers vor Gerichten unter anderem damit, dass wegen des Einsatzes öffentlicher Fördermittel bei der Sanierung des Hauses im Jahr 2004 Beschränkungen der Miethöhe und Belegungsbindungen bis ins Jahr 2026 gelten würden. Doch auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte in seinem Urteil im Oktober 2019 (OVG 10 B 9.18) die Ausübung des Vorkaufsrechts.
Komplett überraschend kommt das Urteil der Leipziger Richter allerdings wohl nicht. Denn im – wegen der Blockade der CDU – äußerst zähen Verfahren für das Baulandmobilisierungsgesetz forderte der Bundesrat Ende 2020 zu Formulierungsänderungen auf. »Bei rein wörtlicher Auslegung der Vorschrift dürfte das Vorkaufsrecht in den Erhaltungsgebieten nicht ausgeübt werden«, warnte die Länderkammer.
»Keine Abwendungsvereinbarung mehr. Bei abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen stellt sich zudem die Frage nach dem Wegfall der Geschäftsgrundlage«, nennt Klägeranwalt Mathias Hellriegel weitere mögliche Konsequenzen des Urteils. Die Dimensionen sind nicht unerheblich. Bis Ende 2020 wurden laut dem letzten Jahresbericht der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für 7352 Wohnungen Abwendungsvereinbarungen geschlossen. Sie schützen Mieter meist für einen Zeitraum von 20 Jahren vor Verdrängung durch Luxusmodernisierung und Aufteilung in Eigentum. Für rund 2300 Wohneinheiten wurden laut Senatsstatistik von 2015 bis Ende 2020 ausgeübt.
Auch für zum Beispiel wegen laufender Prozesse noch nicht rechtskräftige Vorkaufsfälle sieht es nun düster aus. Betroffen ist damit die Hermannstraße 48 in Neukölln. Der Bezirk übte das Vorkaufsrecht zugunsten einer mit Hilfe des Mietshäusersyndikats gegründeten GmbH der Hausgemeinschaft »H48« aus, doch Käufer und Verkäufer legten Klage ein. Allein in Neukölln sind für vier Vorkaufsfälle noch Gerichtsverfahren anhängig.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.