Einer wie Sisyphos

Vor 200 Jahren wurde Fjodor Dostojewski geboren

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Der 17-jährige Fjodor Dostojewski schreibt 1838 an seinen Bruder: »Ich habe ein Projekt: den Verstand verlieren. - Mögen die Leute in Wut geraten, mögen sie mich heilen und mich vernünftig machen.« Da geht also jemand aufs Ganze. Aber was findet, wer seinen Verstand so vorsätzlich verlieren will? Überlebt hat er sein »Projekt« oft nur knapp. Sein Leben war das eines notorischen Spielers, auf den Ruin hin gebaut. Seine unter Schmerzen neu gewonnene Vernunft investierte er ganz und gar in seine Bücher. Für den Alltag blieb da nur die Unvernunft - und lebenslange Schulden.

»Die Brüder Karamasow«, »Schuld und Sühne«, »Der Idiot« oder »Die Dämonen« kultivieren den Widerspruch zwischen Rationalität und Gefühl, zwischen Glauben und Skepsis. Jenen Widerspruch, den er selbst in sich trug. Versöhnung ist gewollt, aber zuvor kommt das Zuspitzen des Gegensatzes - oft bis zur Unerträglichkeit.

Dostojewskis Leben als Autor schöpft aus einem Trauma. Er hatte wenige Jahre zuvor den Briefroman »Arme Leute« veröffentlicht, da wurde er 1849 wegen seiner Nähe zu den Sozialrevolutionären um Petraschewski zum Tode verurteilt. Wegen eines Briefes! In diesem Kreis vereinigten sich die Ideen der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit denen des utopischen Sozialismus, des deutschen Idealismus, sozialkritischen Positionen von russischen Publizisten wie Wissarion Belinski und Alexander Herzen. Aber auch romantische Autoren wie Puschkin, Gogol und Lermontow spielten hierbei eine Rolle. Das politische Hauptziel dieses Reformkreises war die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Alphabetisierung des Volkes. Doch diese Aktivitäten wurden - im Zusammenhang mit den bürgerlichen Revolutionsbewegungen in ganz Europa von 1848 - als Angriff auf die Ordnung im Zarenreich verfolgt.

Am 22. Dezember 1849 führt man ihn zur Hinrichtung, legt ihm das Totenhemd an und lässt das Erschießungskommando aufmarschieren. Das Todesurteil wird verlesen, die Gewehre angelegt - dann trommelt man, buchstäblich in letzter Sekunde, zur Einstellung der Exekution. Zar Nikolaus I. begnadigt die zum Tode Verurteilten zur Zwangsarbeit in Sibirien. Dostojewski ist nicht exe-kutiert worden, aber lebt er noch? Er hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen.

Vier Jahre lang muss er nun eine fünf Kilogramm schwere Eisenkette um den Fuß tragen. In seinen »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« wird er den Schrecken der Verbannung beschreiben. Was für ihn in diesen Jahren am schlimmsten gewesen sei? Dass er nicht einen Moment allein sein konnte. Er fühlt sich als bloßes Partikel in der Masse der Verachteten. Aber er weiß sich nun auch zu ihnen gehörig. Zu den westlichen Aufklärungsidealen, die nicht verschwinden, nur verblassen, treten immer stärker slawophile Ideen. Die russische »Obschtschina« (die traditionelle Dorfgemeinschaft), die Frage nach Gott, aber auch die erfahrene Todesangst, Sinnlosigkeitsgefühle und der übermächtige Schmerz seiner Existenz treten als Themen hinzu.

Da es ihm gelingt, sich in Semipalatinsk (hier vegetieren 1846 über 150 000 Verbannte) mit dem örtlichen Staatsanwalt Alexander Wrangel anzufreunden, erhält er die Erlaubnis, sich Bücher nach Sibirien schicken zu lassen. Vor allem auch deutsche! Er abonniert die »Augsburger Allgemeine Zeitung«, denn das Leben der Deutschen interessiert ihn ebenso wie das der Russen. Nicht zufällig war sein zentrales Bildungserlebnis die Lektüre von Schillers »Die Räuber« gewesen. Franz und Karl Moor inspirieren ihn zu »Die Brüder Karamasow«. Dem »Westler« Iwan stehen seine Brüder Dimitri (der »russische Triebmensch«) und Aljoscha (der »fromme Russe«) entgegen, ebenso eine illegitime Kreatur, ihr Halbbruder Smerdjakow, ein ehrloser Intrigant und Mörder. Frank Castorf, der 2015 »Die Brüder Karamasow« an der Berliner Volksbühne inszenierte, erkennt im Typus Smerdjakow Lenin und Stalin, die ihre deutschen Theoriegötter Marx und Engels in eine schmutzige Praxis übersetzten. Bereits in seinen Inszenierungen von »Der Idiot« oder »Der Spieler« forcierte Castorf die immanenten Ost-West-Kollisionen.

In seinem Essay »Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus« hat László F. Földényi anhand einer prägnanten Szene durchgespielt, wie der Osten immer erwartungsvoll nach Westen schaute, der Westen aber selten mit gleicher Erwartung zurück - schon damals. Földényi stellt sich vor, wie Dostojewski Hegels »Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte« studiert - und hierbei auf eine Weise erschrickt, als stünde er nochmals vor den Gewehren des Erschießungskommandos. Denn die Weltgegend seiner größten Pein, Sibirien, existiert für Hegel gar nicht! Er fertigt sie aus der Weltgeistperspektive so ab: »Zuerst ist die nördliche Abdachung, Sibirien auszuschalten. Sie liegt für uns jenseits der Betrachtung. Die ganze Beschaffenheit des Landes ist nicht derart, dass es ein Schauplatz geschichtlicher Kultur wäre und eine eigentümliche Gestalt in der Weltgeschichte hätte bilden können.« Földényi lässt Dostojewski das Gefühl völliger Verlorenheit überkommen, die Verzweiflung darüber, dass »man dort in Europa, für dessen Ideen er zum Tode verurteilt worden war, seinem Leiden keinerlei Bedeutung beimaß.«

Ist etwa das Leid eines sterbenden Kindes mit den Kategorien der Vernunft erfassbar? Das sind die Fragen, die sich Dostojewski nun stellt - und er findet sie weder bei Schiller noch bei Hegel einer Erörterung für würdig gehalten. Aber auch, dass Gott solcherart Schmerz zulassen könnte, erscheint ihm unwahrscheinlich. So also wächst das paradoxe Weltgefühl in ihm, der Diskurs über die Unzulänglichkeiten des östlichen wie westlichen Geistes, der ihn schließlich zu einem »Slawophilen auf Widerruf« macht.

Der Widerspruch, den Dostojewski in sich austrägt, ist der Russlands, das sich über beide Kontinente erstreckt: Asien und Europa. Im »Tagebuch eines Schriftstellers« heißt es im Abschnitt »Geständnisse eines Slawophilen«: »Ich habe in vieler Hinsicht slawophile Überzeugungen, obschon ich vielleicht nicht vollends Slawophiler bin.« Der Vorbehalt gegen die großrussische Idee, die sich im Panslawismus verbirgt (die Einheit der slawischen Völker unter Führung Russlands) ist jederzeit spürbar, schließlich lebt er jahrelang in Baden-Baden und Dresden. Aber ohne alle Illusionen über den westlichen Rationalismus und immer aus der Perspektive der »Erniedrigten und Beleidigten«, was mehr als bloß eine soziale Einordnung ist. Mit der Politik hat er da längst gebrochen. 1854 notiert er, was ihm zum Glaubensbekenntnis wird: »Wenn mir jemand die Existenz Christi jenseits der Wahrheit bewiese, tatsächlich aber die Wahrheit von Christus unabhängig ist, zöge ich Christus der Wahrheit vor.«

Während seines Dresdner Aufenthalts 1869 bis 1871 (wegen seiner Schulden darf er nicht nach Russland, dort wartet der Schuldturm auf ihn) schreibt er »Die Dämonen«, seine Abrechnung mit den Parteigeistern. »Die Deutschen haben meine Nerven zerrüttet«, notiert er. Funktionäre und die Politbürokratie jeder Couleur sind ihm zuwider. Er spiegelt sich in seinem Alter ego, den er als Fürst Myschkin in »Der Idiot« erschaffen hatte - ein Mensch ohne Macht, aber voller seelischer Schönheit, der folgerichtig wehrlos zum Spielball von Intrigen wird.

Das Religiöse bleibt für ihn bis zu seinem Tod im Alter von 59 Jahren, 1881, präsent, aber auf eine negative Art und Weise, die den Mystiker zeigt. Wie soll man Gott folgen, wenn er in der Welt nicht anwesend ist? So wird Dostojewski zum Gottsucher in einer Welt ohne Gott. In der Legende vom Großinquisitor, die man in »Die Brüder Karamasow« nachlesen kann, zeigt er den Widerspruch, auf dem die christliche Kultur basiert, in aller Schärfe.Jesus kehrt auf die Erde zurück - ins Spanien der Inquisition, erscheint vor dem alten Großinquisitor am Vorabend eines Autodafés. Dieser erkennt ihn sofort und herrscht ihn an, warum er zurückgekommen sei. Um die Ordnung zu stören? Das werde man nicht dulden! Er werde ihn als Ketzer verbrennen lassen, wenn er nicht sofort verschwinde.

Das ist die Kollision von ursprünglichem Geist und seiner Institutionalisierungsgeschichte. Beide haben wenig miteinander gemein, bleiben aber ein untrennbarer Widerspruchszusammenhang. Diesem geht Dostojewski immer aufs Neue nach. Verantwortungslos verspielt wie altersweise und tief. Verblüfft notiert André Gide, als er die Briefe Dostojewskis liest: »Man ist darauf gefasst, einem Gott zu begegnen, und findet einen Menschen - einen kranken, armen, sich unablässig mühenden Menschen.« Einer wie Sisyphos, der uns bis heute nicht loslässt.

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