An unsichtbaren Ketten

Atlas der Versklavung macht Ausbeutung und Zwangsarbeit weltweit sichtbar

  • Haidy Damm
  • Lesedauer: 4 Min.

»Sklaverei erscheint den meisten Menschen als Relikt aus vergangenen Zeiten. Und wenn nicht das, dann zumindest als abstraktes und weit entferntes Phänomen. Aber sie ist ganz nah, im Palmöl unserer Kosmetika, unserer Kleidung und den Rohmaterialien in unseren Smartphones«, sagte Daniela Trochowski, Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung anlässlich der Veröffentlichung des »Atlas der Versklavung« am Mittwoch in Berlin.

Die Autor*innen der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Broschüre untersuchen zahlreiche Daten und Fakten über Zwangsarbeit und Ausbeutung. Besonders häufig treffe jede Art von Zwangsarbeit Menschen, die sozial ausgegrenzt werden, auf der Flucht sind oder keine Papiere haben, die nicht lesen und schreiben können, oder Meschen, die sich verschuldet haben. »Extreme Ungleichheit macht Menschen verwundbar und unterdrückbar«, so Trochowski.

Rein rechtlich ist die Sklaverei fast überall auf der Welt abgeschafft. So heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: »Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.« Dennoch sind laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) heute mehr Menschen versklavt als jemals zuvor, nämlich mindestens 40 Millionen.

Dabei ist die Definition, welche Ausbeutungsverhältnisse unter »modere Sklaverei« fallen, keineswegs eindeutig. Dazu gehört sicher die fehlende Einwilligung zu einer Arbeit etwa unter Androhung von Gewalt. Zu den Kriterien können auch strukturelle Gewalt und Armut gehören, wenn sie Menschen in die Sklaverei führen, weil sie keine Alternative haben. Oder wenn Arbeitsbedingungen als illegal eingestuft werden sowie Grenzen der Zumutbarkeit überschreiten. Zwangsarbeit ist also eine durchlässige Kategorie. So wechseln Arbeitskräfte oft innerhalb relativ kurzer Zeiträume zwischen Zwangsarbeit und weniger gravierenden Formen der Arbeitsausbeutung hin und her - etwa in der Landwirtschaft, beim Rohstoffabbau, auf Kakaoplantagen oder in der Hochseefischerei. Als Formen der Versklavung werden aber auch die Rekrutierung von Kindersoldat*innen, Zwangsehen und Zwangsprostitution eingeordnet.

Europa ist an extremen Formen der Ausbeutung einerseits dadurch beteiligt, dass ein Großteil der unter solchen Bedingungen produzierten Konsumgüter in den Industriestaaten verkauft wird. Andererseits sind auch in Europa selbst besonders Migrant*innen der Gefahr ausgesetzt, in Schuldknechtschaft zu geraten, auch weil sie häufig hohe Summen für ihre Einreise zahlen. Können sie ihre vermeintlichen Schulden nicht abarbeiten (und das System ist in der Regel so angelegt, dass das nicht möglich ist), geraten sie in einen Strudel von Abhängigkeiten. So zählt Ungarn laut Global Slavery Index 36 000 Opfer von Sklaverei, in Tschechien werden hoch verschuldete Migrant*innen in der Drogenproduktion eingesetzt. In Rumänien und Südeuropa rekrutieren Viehzüchter Hirten unter den »Ärmsten der Armen«, heißt es im Atlas.

In der Landwirtschaft Italiens sind laut Branchengewerkschaft FLAI-CGIL über 430 000 Menschen in mafiöse Strukturen eingebunden. 100 000 von ihnen leben unter unwürdigen Bedingungen in illegalen Slums ohne jegliche Infrastruktur. Sie ernten Äpfel, Weintrauben, Melonen, Erdbeeren, Tomaten - jeden Tag bis zu 14 Stunden, von vier Uhr morgens bis abends um sechs. Im gesamten Niedriglohnsektor wie der Fleischindustrie, der Gastronomie, der Baubranche oder der Pflege haben migrantische Arbeitskräfte ein besonders hohes Risiko, ausgebeutet zu werden. »Das geschieht unter Ausnutzung einer persönlichen oder wirtschaftlichen Notlage, der Unkenntnis von Sprache und Arbeitsrechten, mittels Täuschung und Drohungen - unsichtbar und ganz ohne Ketten«, sagt Kim Weidenberg von »Arbeit und Leben Berlin Brandenburg«. Auch in Deutschland.

Sklaverei existiert also keineswegs nur in illegalen Branchen wie dem Drogenhandel, sondern auch dort, wo sich legale Wirtschaftstätigkeit mit informeller Arbeit überschneidet. Die ILO schätzte 2014, dass die jährlichen Gewinne aus Sklaverei und Zwangsarbeit in der EU und den entwickelten Ländern des globalen Nordens bei mindestens 47 Milliarden US-Dollar liegen, weltweit bei über 150 Milliarden US-Dollar.

Gute Gesetze wie in der Europäischen Union reichen also nicht, um Zwangsarbeit und Ausbeutung zu bekämpfen. »Sklaverei kann nur dadurch beendet werden, dass die Wirtschaft reguliert, der Zugang zu sozialen Rechten verbessert und legale Formen der Migration ermöglicht werden«, sagt Daniela Trochowski.

Problematisch ist laut Rosa-Luxemburg-Stiftung allerdings, dass die Daten etwa der ILO über Zwangsarbeit und andere Ausbeutung sehr lückenhaft sind. So erfasste etwa das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung insgesamt 534 verschiedene Routen des Menschenhandels. Mehr als 120 Länder gaben an, Betroffene aus über 140 verschiedenen Herkunftsländern entdeckt zu haben. Gleichzeitig werden nur etwa 0,2 Prozent der weltweiten Fälle von Sklaverei juristisch untersucht und strafrechtlich verfolgt, hieß es weiter. Nötig seien deshalb »auch in Deutschland der Ausbau und die langfristige Finanzierung von Beratungsstellen für Betroffene von Arbeitsausbeutung sowie regelmäßige Kontrollen des Zolls«, betonte RLS-Projektleiterin Eva Wuchhold. Um Sklaverei endgültig abzuschaffen, müsse zudem die Anti-Sklaverei-Bewegung stärker unterstützt werden.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -