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Impfwillige stehen im Regen
Sachsens mobile Impfteams überlastet / Ärzteverband will Impfpflicht ab 16
Die Schlange vor der »Poliklinik« in Leipzig zieht sich die Straße hinunter; teils stehen die Menschen zwei bis drei Stunden an. Das solidarische Gesundheitszentrum im Stadtteil Schönefeld bietet Impfungen gegen Corona an – und wird von der Nachfrage überrannt: »Wir wussten ja, dass es voll wird«, heißt es, »aber das übertrifft alle Erwartungen.«
Die »Poliklinik« ist keine Ausnahme; auch andernorts im Freistaat ist der Ansturm auf die Impfungen enorm. Zeit wird es: Mit einer Impfquote von 57,3 Prozent ist der Freistaat weiterhin das bundesweite Schlusslicht. Zugleich ist die Lage zunehmend dramatisch. Sachsens Landesärztekammer (SLÄK) konstatiert, man habe »den Worst Case in der Pandemie« erreicht. Die Krankenhäuser füllen sich rasant und sind zunehmend überlastet; am Mittwoch waren bereits 1189 Betten auf Normal- und 288 auf Intensivstationen mit Patienten belegt, die an SARS-CoV 2 erkrankt sind. Letztere sind laut Recherche der »Sächsischen Zeitung« zu 90 Prozent ungeimpft. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 6400; unter Ungeimpften erkrankten binnen Wochenfrist 1152 von 100.000 Menschen – einer von 87.
Insofern ist es gut, dass Menschen sich nun impfen oder ihren Impfschutz verstärken lassen wollen – 65 Prozent kommen zum »Boostern«. Impfen sei »ein valides Mittel, die Pandemie zu beherrschen«, sagt die Ärztekammer, die sogar mit der Forderung nach einer allgemeinen Corona-Impfpflicht für alle ab 16 Jahren aufhorchen ließ. Bisher setzt die Politik auf Freiwilligkeit – und lässt zugleich viele derer, die sich zur Impfung entschließen, im Regen stehen. Weil es beispielsweise enorme Nachfrage nach den Angeboten der »Mobilen Impfteams« des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) gibt, warteten Ältere, Familien mit Kindern oder Schwangere »stundenlang, zum Teil in der Kälte«, heißt es in einem offenen Brief des Impfteams in Dresden. Täglich müsse man »Hunderten Menschen eine Impfung verweigern«, weil der Impfstoff nicht reicht. Folgen seien Frust und »verbale Gewalt«.
Bis August gab es in Sachsen in jedem der zehn Landkreise und den drei Großstädten je ein Impfzentrum. Angesichts von Inzidenzen im einstelligen Bereich flaute im Sommer jedoch das Interesse enorm ab; im September wurden die Zentren nach und nach geschlossen. Die weitere Impfkampagne meinte man vor allem in den Hausarztpraxen stemmen zu können. Die Kassenärztliche Vereinigung hielt 100.000 Impfungen pro Woche für realistisch. Jedoch gab es auch dort Probleme; wegen geringer Nachfrage mussten etwa Impfdosen in Größenordnungen vernichtet werden. Waren zu Spitzenzeiten noch 2700 Hausärzte beteiligt, sind es jetzt rund 1000.
So richten sich Hoffnungen vieler Impfwilliger auf die 30 Mobilen Teams, die eigentlich vorrangig in Pflegeeinrichtungen impfen sollten, nun aber auch in Rathäusern oder Einkaufszentren tätig und dabei völlig überlastet sind. Man arbeite »an unserer Belastungsgrenze«, heißt es im offenen Brief. Es bleibt keine Zeit zum Essen; oft sind die Arbeitsbedingungen schlecht. In den improvisierten Räumlichkeiten fehle es teils an Möglichkeiten zur Überwachung der Patienten und mitunter »an einfachsten Dingen wie einer Liege«. Die Rede ist vom »Zynismus einer zur Impfung aufrufenden Politik und der mangelnden Verfügbarkeit an Impfangeboten« – mit den Impfteams als Blitzableitern.
Das Land will nun für Besserung sorgen. Die Kapazität der Mobilen Teams soll so erweitert werden, dass sie 6000 statt 3000 Dosen pro Tag verimpfen können. Ein Problem sei aber, ausreichend Personal wie Ärzte und medizinische Assistenten anzuheuern, sagte Dagmar Neukirch (SPD), die Staatssekretärin im Sozialministerium. Susanne Schaper, Gesundheitsexpertin der Linken im Landtag, fordert derweil, die Impfzentren wieder zu öffnen: Deren Schließung »war ein Fehler«.
Zuletzt wurden im Freistaat an einem Tag neben 12.616 Auffrischungsimpfungen auch 2659 Erst- und 3001 Zweitimpfungen verteilt. Von den gut vier Millionen Sachsen haben sich bisher mehr als 1,6 Millionen – von denen aber rund ein Drittel Kinder unter 12 sind – noch nicht impfen lassen.
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