Im Reich der Zahlen

Leo Fischer erklärt das Phänomen dieser abstrahierten Naturkräfte, die uns alle beherrschen

Die Zahlen gehen wieder nach oben! Na sowas! Jetzt muss natürlich gehandelt werden, das ist doch klar. Vorher waren sie unten, also musste nicht gehandelt werden, jetzt, wo sie oben sind, ist der Handlungsdruck natürlich enorm. Politik ist das Anpacken großer Zahlen! Kleine Zahlen regeln sich von selbst, bei großen Zahlen müssen bei uns natürlich wieder alle Alarmglocken schrillen.

Tatsächlich konnte niemand, der der Wissenschaft in den letzten Monaten auch nur fünf Minuten zugehört hatte, ernsthaft daran zweifeln, dass es in diesem Herbst genauso kommen würde, wie es besagte Wissenschaft ausgerechnet hatte, natürlich in den Grenzen statistischer Abweichungen: zum Bersten gefüllte Kliniken, explodierende Inzidenzen. Sämtliche verantwortlichen Politiker*innen taten hingegen so, als seien die Zustände im Herbst völlig unabsehbar, als könnten sie mal so, mal so ausfallen.

Zur Person

Leo Fischer war Chef des Nachrichtenmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmüll.

Foto: privat

Vielleicht wird ja alles nicht so schlimm, vielleicht können wir einfach per Dekret die »pandemische Lage« beenden! Zahlen können schließlich mal groß und mal klein sein, je nach Rechenweise, da ist nichts in Stein gemeißelt. Eventuell hören Viren ja von selbst auf, sich zu vermehren, einfach aus Unlust oder weil es draußen zu kalt geworden ist.

Vielleicht hören Querdenker ja von selbst auf, sich maskenlos in den Nahverkehr zu stellen und laute Gespräche über die Drosten-Diktatur zu führen. Vielleicht hört die wirtschaftshörige Springer-Presse ja von selbst auf, diesen Leuten wöchentlich aufs neue Zunder zu geben. Und vielleicht hört sogar die Wirtschaft von selbst auf, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Lobby-Mitteln das unbeirrbare »Weiter so« durchzusetzen, bis es noch mal hunderttausend Tote gibt. Vielleicht, vielleicht, vielleicht – das entscheiden letztlich nur die Zahlen!

Lange habe ich mich gefragt, warum dieser offensichtliche Schwindel um »die Zahlen« bei völlig eindeutigen und bestens erforschten Ansteckungsstatistiken von einer so breiten Masse widerstandslos eingekauft wird – und woher diese Metapher von den »Zahlen«, die mal so, mal so sein können, eigentlich stammt. Dann wurde mir klar: Es sind die Börsenkurse! Zahlen, gegen die man nichts machen kann, die mal in die Höhe schießen, dann wieder sinken, scheinbar unkontrollierbar, unvorhersehbar.

Auf die kann man immer nur reagieren, Wetten abschließen, aber ungewiss bleibt es allemal! Wir, als Politik und Gesellschaft, können nur inständig hoffen, dass die Kurse stabil bleiben, sind ihnen aber letztlich ausgeliefert. Im Zeitalter der Aufklärung mögen Zahlen einmal ein Organ der Beruhigung gewesen sein – Zahlen bedeuteten Berechenbarkeit, Beherrschbarkeit. Heute kommen Zahlen über uns als ein Außen, wie die Heuschrecken, nicht von uns gemacht, abstrahierte Naturkräfte.

Dieser Schwindel funktioniert auch beim Klima ganz gut: Wir müssen schauen, ob wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, halt gucken, wie die Zahlen in zehn Jahren sind, obwohl alle Berechnungen sagen, dass wir es auf dem gegenwärtigen Wege in jedem Fall verpassen. Das Argument von »den Zahlen« hilft auch, nicht als Relativierer der Wissenschaft dazustehen, wo sie einem lästig wird.

Die Wissenschaft gibt es schon noch, aber sie ist ein Reich des Chaos, in dem mal dieser, mal jener Wissenschaftler dies oder jenes sagt – wir müssen auf jeden Fall die Zahlen abwarten! Wissenschaft behält so ihre Funktion als ordnende Rahmenideologie, deren Einschätzungen aber völlig ohne Konsequenz bleiben, während die Zahlen aus einem vorwissenschaftlichen Raum über uns kommen.

So bleibt uns einfach abzuwarten, wie die Zahlen im Herbst 2022 werden. Ich habe hier bereits eine kleine Vermutung – will aber natürlich den Zahlen nicht vorgreifen!

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