Wiedersehen mit Lehrstück

An der Berliner Volksbühne lässt René Pollesch das Ensemble in seinem neuen Stück über Arbeit und Theater nachdenken

Ruhig ist es auf der Bühne geworden, wenn der Autor-Regisseur und neue Intendant der Volksbühne in Berlin, René Pollesch, zur Premiere bittet. Energetisches Geschrei und kaskadenartige »Scheiße!«-Rufe, die vor einigen Jahren noch stark mit seinen quirlig-klugen Inszenierungen assoziiert waren, sind so jetzt nicht mehr zu hören. Geblieben ist die Lust am theorieverliebten und kunstvoll vorgebrachten Textschwall.

»Herr Puntila und das Riesending in Mitte« heißt der neue Theaterabend von Pollesch, der am letzten Donnerstag Premiere hatte. Mit den schönsten Titeln glänzte der Theatermacher schon immer. Und dieser erinnert wieder mal - klar! - an Bertolt Brecht. »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, jener Text über den beharrlichen Antagonismus von denen da Oben und denen da Unten, von Arm und von Reich, ist das Brecht’sche Referenzstück, das dafür Pate stand. Und das Riesending in Mitte? Das ist der Theaterkreuzer in der Hauptstadt, Volksbühne genannt und nach dem Zweiten Weltkrieg im schönsten sozialistischen Klassizismus wiedererrichtet.

Eben jenes Haus ist es, das Bühnenbildnerin Nina von Mechow in Miniatur auf die Drehbühne des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz gesetzt hat. Dopplungen und Selbstbezüge, Wortschleifen und Zitate sind die Werkzeuge, mit denen hier immer wieder auf hohem Reflexionsniveau gearbeitet wird. Und so wird nun mit Brecht vor allem über sich selbst, die Arbeit auf der Bühne, den Künstler in der Gesellschaft und ein bisschen auch über Politik nachgedacht.

Frank Castorf hatte das Haus fast ein Vierteljahrhundert zu einem trotzigen Hort des Widerstandsgeists im wandlungsanfälligen Berlin-Mitte gemacht. Das jähe Ende dieser Zeit und das unglückliche Nachfolgedilemma seit 2015 haben Pollesch zum unvermeidlichen Thronfolger werden lassen, von dem man erwartet und erwarten kann, dass er weiß, wie politisches Theater geht. Der aber leitet sein Haus bisher mit coolem Understatement. Drei Premieren hat der Intendant seit September an der Volksbühne selbst verantwortet - und immer bleibt vor allem eine Frage: Wie wollen wir hier arbeiten?

Die Schauspieler Astrid Meyerfeldt und Franz Beil, Inga Busch und Christine Groß nebst grandiosem Chor arbeiten sich dieses Mal am Lehrstück ab. Als eines der radikalsten Theaterprojekte des letzten Jahrhunderts erdacht, ließ Brecht seine Texte von Laien spielen, die dadurch Haltungen »ausprobieren« und einüben konnten. Die Suche nach dem neuen Menschen wurde ernst genommen, nicht nur in der Theorie. Das Spiel zielte nicht auf eine Präsentation vor Publikum ab, sondern der Erkenntnisgewinn der Spielenden selbst stand im Mittelpunkt.

Ein bisschen wirkt dieser Neustart an der Volksbühne genau so: wie ein Spiel der Beteiligten für diese selbst, als Teil einer Selbstverständigung, wie man hier gemeinsam Theater machen will. Und der hübschen Volksbühnen-Tradition, in Serie Erwartungen zu unterlaufen, wird man ja doch gerecht. Das laute, knallbunte Spektakel bleibt aus. Selbstironisch wird dieser Bühnenabend mit dem Einwand eröffnet, dass hier immer dasselbe Stück zu sehen sei.

In neunzig Minuten werfen sich die Darsteller die Wortbälle zwischen Kalauer und Karl-Marx-Zitat zu. Punkt für Punkt werden die Relikte der bürgerlichen Gesellschaft, von der Arbeitsteilung bis zum Künstlergenie, entlarvt. Gemeinsam singt man das Abschiedslied auf das Illusionstheater und, wie es heißt, auf den »suggestiven Realismus«. Jede und jeder bleibt in Distanz zum Gesagten - und in nicht ganz greifbarer Ferne bleibt es auch für das Publikum.

Die hilfreichen Kostüme (Tabea Braun), die selbst noch dem unkundigen Zuschauer genau vermitteln, wen er vor sicht hat, sind mit den Namen der Spielenden bedruckt. Und gespielt wird, wie seit jeher bei Pollesch, keine Figur, sondern eine Haltung, ein Theoriekonstrukt, ein vermitteltes Selbst. Der eigene Name auf dem Kostüm ist auch eine Absage an ein Theater, das man für klischiert und verlogen hält.

Das »Projekt Volksbühne« generiert zurzeit mehr Spannung als der einzelne Bühnenabend. Man lacht und man langweilt sich, man nickt zustimmend und man schaltet ab. Ein bisschen enttäuscht denkt man vielleicht an eine der »großen« Vorstellungen, die man hier gesehen hat, vielleicht auch eben dieses Regisseurs. Aber die Idee, dass hier etwas ganz Anderes entstehen könnte, dass man ein Theater schaffen will, das über die eigenen Produktionsbedingungen nachdenkt - und zwar zuallererst -, kann man so falsch gar nicht finden.

Wem das für diesen Moment zu wenig ist, der kann womöglich an anderer Stelle erkennen, was dieses Haus noch zu bieten hat. Die Solidarisierung der Volksbühne mit den Streikenden, die den »Pflegenotstand« ausgerufen haben, ist das entscheidende Zeichen, das von dem Theater in diesem Herbst ausging. Dieser Allianz mit den Streikenden ist im Interesse der Bühne wie der Pflegekräfte Kontinuität zu wünschen.

»Ich habe die ganze Nacht Karl Marx gelesen, das hat mich ordentlich durchgerüttelt«, sagt Astrid Meyerfeldt in der Inszenierung. Das wäre schön: hier so richtig durchgerüttelt zu werden.

Nächste Vorstellungen: 21., 28.11. und 11.12.

www.volksbuehne.berlin

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