»Keiner kommt raus, keiner kommt rein«

»Paradies« von Gewalt ist eins dieser deutschsprachigen Popalben, von denen es jedes Jahrzehnt nur eins gibt

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Paradies beginnt in diesem Fall mit einer Beschwörung des Verbindenden. Und damit mit einem Trostmoment. Es ist die eine von zwei tröstlichen Gesten auf dem ersten Album der Berliner Band Gewalt. Der Drumcomputer pumpt stumpfsinnig vor sich hin, Gitarren kratzen, der Mann am Mikrofon behauptet: »Wir gehören zusammen / Wir sind eins, wir sind gleich.« Egal, ob Mann, Frau, reich, arm, schwul, hetero, »begrenzt oder schlau« und so weiter. Denn (und da schraubt sich die Stimme gleich eins hoch): »Was uns verbindet / ist unsere Gier.«

Man kann die zehn Stücke auf »Paradies« auch als einen Versuch verstehen, so etwas wie kleinste gemeinsame Nenner zu finden. »Wir sind mechanisch / wir sind zerbrechlich«, singen Bassistin Jasmin Rilke und Gitarristin Helen Henfling im Chor, und das wäre ja immerhin ein Anfang.

Die Menschen in den Liedern von Gewalt sind isoliert voneinander. »Manchmal wage ich mich unter Leute / zum Beispiel zum Einkaufen / oder wenn ich wohin muss / mit öffentlichen Verkehrsmitteln«, singt beziehungsweise erklärt Wagner. Es geht viel um Körperzustände, Angst, Lust, die aber auch erkaltet wirkt, zum Beispiel in dem anstrengenden Stück »Jahrhundertfick«. Die maschinelle Musik hat nicht mehr viel vom Vitalismus von Surrogat, der ersten Band Patrick Wagners, der zuletzt, auf den auch schon wieder zwanzig Jahre alten Alben »Rock« und »Hell in Hell« Größenwahn ausagierte und dabei die Grenze zwischen Ironie und Ernst verwischte.

Inzwischen gibt es nichts mehr zu lachen. Die großen Themen in den Texten von Wagner, unter anderem Gründer der deutschen »Fuck-up-Nights« (bei denen Menschen von ihren gescheiterten Unternehmungen berichten), Ex-Chef des bankrott gegangenen Labels Kitty-yo, heute Fußballjugendtrainer und Sänger und Gitarrist bei Gewalt: Scheitern, Angst und innere Verödung. Das alles ist zu gleichen Teilen depressives wie aufputschendes Feuerwerk der schlechten Laune, in adäquat enormer Lautstärke vor allem. Ein geplätteter Konzertbesucher bedankte sich nach dem Auftritt in Bremen bei der Band: »Ich bin ja kein Borderliner, aber ab und zu tut so was echt gut.«

In den letzten Jahren haben Gewalt neun Vinyl-Singles veröffentlicht, von denen einige nun auch auf der Vinyl-Version von »Paradies« enthalten sind, die als Doppelalbum in einer Woche erscheinen soll. In diesen frühen Songs erzählt das lyrische Ich vom Besuch beim Amt (»Ihnen und Ihrem Sohn droht Obdachlosigkeit«), Ehekrieg und - wie es in »Pandora« heißt, dem ersten und damit programmatischen Stück von Gewalt - von »Arbeit/Krankheit/Tod«.

Die Negativität und Trostlosigkeit dieser Musik kommt auf »Paradies« nun zur vollen Entfaltung und transportiert Erleichterndes. Patrick Wagner hat tatsächlich einen Weg gefunden, so etwas wie den Eindruck von kaputter Authentizität im Rock wieder plausibel werden zu lassen, mitsamt der bewusst gesetzten Peinlichkeit, die dazugehört. Das geht heute also offenbar wieder mit Entfremdung suggerierender Maschinenmusik und dem Mut zu Gesten der Selbstentblößung. Der »Musikexpress« dichtete dem Album dann auch gleich »die Chance, dass Musik doch noch etwas verändern könnte«, an. Doch das wird sie natürlich nicht - einmal generell nicht und im Speziellen, weil diese Musik das gar nicht will. Das, was die Menschen hier verbindet, Gier zum Beispiel, treibt sie auch gleich wieder auseinander.

»Paradies« reiht sich ein in die Serie der, na ja, großen deutschsprachigen Pop-Alben, von denen es für jedes Jahrzehnt eins gibt. Fehlfarbens »Monarchie und Alltag« für die Achtziger, Blumfelds »L’Etat et Moi« für die Neunziger; für die Nullerjahre fällt mir allerdings nichts Entsprechendes ein. Für die Zehner: »DMD KIU LIDT« von Ja, Panik . Und jetzt eben Gewalt.

Wenn man diese Reihe spaßeshalber als eine fortschreitende Erzählung nimmt, ist das narzisstische Subjekt, das in all diesen Liedern seit »Paul ist tot« (Fehlfarben) über »Draußen auf Kaution« (Blumfeld) bis zum Titelsong des Ja, Panik-Albums um sich selbst kreist, auf »Paradies« dann am Druck von innen und am Druck von außen vollends zerhackt worden. Es versucht nun zu retten, was zu retten ist: »Wir bauen eine Wand / keiner kommt raus / keiner kommt rein«, heißt es im besten Stück des Albums.

Der Rettungsversuch besteht hier darin, sich vor der Welt zu schützen und trotzdem immer wieder aus sich rausgehen zu müssen. Weil: Vor der Wand, die man sich da gebaut hat, wird man, so endet das Lied, dann ja eh nur erschossen. »Du musst stumpfer werden«, empfiehlt Patrick Wagner in zackigem Duktus. »Du musst dich abtöten / vollständig abtöten.« Der unangenehme Verdacht beim Hören dieser Musik: Eventuell hat er damit recht. Und alles würde leichter.

Gewalt: »Paradies« (Clouds Hill/Warner)

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