Die Schwelgerei verzückter Liebesgeigen

Wird der Komponist Victor Hollaender wiederentdeckt? In Potsdam war seine Musik für »Sumurun« zu hören

  • Kevin Clarke
  • Lesedauer: 4 Min.

Nein, den Regisseur der orientalischen Stummfilmorgie »Sumurun«, 1920 in den Ufa-Ateliers in Berlin-Tempelhof gedreht, muss man nicht mehr vorstellen. Ernst Lubitsch ist eine Legende und weltberühmt für seinen »Lubitsch-Touch«, mit dem er in Hollywood Komödien wie »Ninotschka« (1939) oder »Sein oder Nichtsein« (1942) in Szene setzte. Bevor der Mann aus dem Berliner Scheunenviertel 1922 nach Kalifornien aufbrach, hatte er gezeigt, wie brillant er historische Kostümepen in Szene setzen kann: »Madame Dubarry« (1919), »Sumurun« und »Das Weib des Pharao« (1922). Das waren Produktionen mit großem Budget, noch größeren Stars, aufwendiger Live-Musik und viel nackter Haut.

Den Komponisten von »Sumurun«, das heißt der Musik, die bei dessen Aufführung gespielt werden sollte, muss man allerdings schon vorstellen: Victor Hollaender. Heute wird er nur noch in Verbindung mit seinem berühmten Sohn Friedrich genannt. Dabei war er einer der erfolgreichsten Unterhaltungskomponisten vor dem Ersten Weltkrieg.

Geboren 1866 in Leobschütz, Schlesien, studierte er Musik in Berlin und war Theater- und Konzertdirigent unter anderem in Hamburg, Budapest, Milwaukee und Chicago. Den Durchbruch schaffte er als Hauskomponist des Berliner Metropol-Theaters, der heutigen Komischen Oper. Dort schrieb er legendäre Jahresrevuen: »Auf ins Metropol!«, »Ein tolles Jahr«, »Das muss man seh’n« und »Die Nacht von Berlin«. Sie enthielten Schlager wie das »Schaukellied« oder »Die Kirschen in Nachbars Garten«.

Zu seinen größten Erfolgen gehörte 1910 die Musik zur Tanzpantomime »Sumurun«, die Max Reinhardt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters inszenierte. In der Berliner Presse konnte man lesen, es sei »narkotische Musik«, die »aus der primitiven Melodik des Bauchtanzes heraufführte bis zur hellen Schwelgerei verzückter Liebesgeigen«. Die Pantomime war so erfolgreich, dass Reinhardt damit auf Tournee ging. In den USA schwärmte die »New York Times« von der »äußerst schön schwebenden Musik«. Reinhardt verfilmte das Stück 1910, der Film gilt als verschollen.

Lubitsch, der bei Reinhardt seine Schauspielausbildung absolvierte, hatte Victor Arnold als Lehrer. Dieser wiederum spielte den buckligen Clown in »Sumurun« - einer Studie über die Liebe, wo alle aneinander vorbei begehren, was zu Eifersucht und Totschlag führt. 1920 machte sich Lubitsch daran, »Sumurun« nochmals zu verfilmen. Er übernahm die Paraderolle seines inzwischen verstorbenen Lehrers und mimte den Clown selbst, der sich nach den selbstbewussten Tänzerin Pola Negri verzehrt.

Neben einer Starbesetzung gab es die bewährte Musik Hollaenders. Sie wurde von der Ufa auch als Klavierauszug herausgegeben, damit andere Kinos sie nutzen konnten. Später wurde zwar der Film von der Friedrich-Murnau-Stiftung restauriert, aber die Originalmusik war nicht aufzufinden. Auf der DVD findet sich ein anderer Soundtrack.

Es war Zufall, dass der Stummfilmdirigent Burkhard Götze 2020 von einem Kollegen hörte, dass ein alter Kinofan den »Sumurun«-Klavierauszug besitze - und auch zur Verfügung stellte. Götze orchestrierte nun den Klavierauszug neu. Diese Fassung wurde am Samstagabend mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg im Potsdamer Nikolaisaal uraufgeführt. Allerdings vor sehr wenigen Besuchern, was vermutlich den Corona-Infektionszahlen geschuldet war. Sodass man hoffen muss, dass diese klanglich überwältigende Version von »Sumurun« anderswo nachgespielt wird und auch den Weg zum TV-Sender Arte findet.

Was Victor Hollaender betrifft, so hat ihn die Komische Oper in ihrem Revival-Projekt zu vergessenen jüdischen Komponisten komplett ignoriert. Doch die Originalaufnahmen seiner Jahresrevuen von 1905 und 1907 hat das Berliner Label Truesound Transfers auf CD herausgebracht. In exzellent restaurierten Fassungen kann man Stars wie Fritzi Massary, Joseph Josephi und Josef Giampietro hören. Als Beleg dafür, dass es über 50 Hollaender-Aufnahmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts gibt, die merklich anders klingen als die Peter-Alexander-Schnulzenversion von »Kirschen in Nachbars Garten«. Leider ist diese CD vergriffen.

Hollaenders letzte Revue »U. A. W. g.« von 1919 wurde 2018 in der Ausstellung des Stadtmuseums »Berlin in der Revolution 1918/19« gewürdigt. Im Katalog berichtet Alan Lareau, dass sich Hollaender anschließend von der Bühne zurückgezogen habe, um Platz zu machen für seinen talentierten Sohn Friedrich, dessen Karriere er maßgeblich förderte. Auch folgte er ihm 1934 nach Hollywood ins Exil, um dem antisemitischen Terror in Deutschland zu entgehen.

Er starb 1940. Seine Memoiren »Revue meines Lebens« wurden von Lareau herausgeben: Ein Bändchen, dem leider nie eine eigenständige Biografie folgte. Lareau sagte dieser Zeitung, er habe es inzwischen aufgegeben, für dieses Projekt zu werben. Noch immer wird Hollaender senior ignoriert.

War das »Sumurun«-Konzert in Potsdam ein Wendepunkt? Vielleicht setzt ja die neue Leitung der Komischen Oper demnächst einen Hollaender-Akzent. Vielleicht gibt ein Verlag Lareau endlich den Auftrag, den Victor-Teil seiner Friedrich-Hollaender-Biografie separat zu veröffentlichen. Es wäre an der Zeit, die Ausradierungspolitik der Nazis endlich zu überwinden und diesen Mann wieder als die Stimme Berlins vor 1919 zu würdigen.

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