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- »First Cow«
Genrekino, das das Genre vermeidet
In aller Stille: Die US-Regisseurin Kelly Reichardt zeigt in »First Cow« eine andere Art von Western
Wenn überhaupt noch Western produziert werden, dann im Modus der Mythos-Dekonstruktion. Filme, in denen Indigene das Fort angreifen und ein John Wayne dann rettet, was zu retten ist, werden heute gar nicht mehr gemacht. Das kann auch fad werden, wenn einem zum 23. Mal erklärt wird, dass der Wilde Westen eine dreckige Angelegenheit und die Männer, die das Land, wie man so sagt, kultiviert und Siedlungen und später Städte gegründet haben, keine Helden, sondern mindestens mal ambivalente Gestalten waren. Am ausführlichsten wurde das in den drei Staffeln der HBO-Serie »Deadwood« erzählt, und dem ist filmisch eigentlich nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen.
Kelly Reichardts Film »First Cow« wirkt auf den ersten Blick, als würde er sich in das Genre Anti-Western nahtlos einfügen, schlägt dann aber einen ganz anderen Weg ein, der überrascht, zumindest wenn man mit Reichardts sonstigen Filmen nicht vertraut ist. Die nämlich zeigen ihre immersive Kraft und auch ihren, wenn man so will, Diskurs, indem sich ihre Erzählungen in aller Stille und Langsamkeit entfalten. Die Plots der frühen Filme »Old Joy« (zwei Freunde fahren zu einer Quelle) und »Wendy and Lucy« (eine Frau sucht ihren Hund) sind so rudimentär, dass es passagenweise wirkt, als würden die Bilder den Modus des Erzählens überhaupt hinter sich lassen wollen. Gewissermaßen ein Genrekino, das das Genre vermeidet – und zwar nicht offensiv, sondern eben in aller Stille. Wenn man sich auf Reichardts Filme wirklich einlässt, auch auf die vergleichsweise dramatischen, wie zum Beispiel »Certain Women« oder »Night Moves«, breitet sich eine Ruhe in einem aus, die, als Zuschauerempfindung, gleichsam eine passive Antithese zu den Dramaturgien und Konventionen des filmischen Erzählens ist. Ohne dabei in die Manierismen des slow cinema zu verfallen. Denn Reichardts Filme zeichnen sich nicht zuletzt durch die Abwesenheit jeder selbstzweckhaften Ästhetik aus. Zurückhaltender kann man bei gleichbleibender intellektueller und konzeptueller Stringenz eigentlich nicht erzählen.
Wenn eine Regisseurin wie Reichardt mit einem der sozusagen archetypischen Genres, dem Western, arbeitet, sollte man genau hinsehen. »Meek’s Cutoff« etablierte 2010 bereits, was »First Cow« nun weiterführt: Das Westerngenre wird sozusagen veralltäglicht. In »Meek’s Cutoff« reist ein Treck durch die Prärie, man sieht die Leute arbeiten und ihr Leben organisieren. Es gibt zwar auch Kontakt mit einem Ureinwohner, und ein Planwagen geht kaputt, aber alles in allem passiert eher wenig. Das Genre wird von Reichardt sozusagen mit filmischen Realismus durchtränkt.
»First Cow« erzählt nicht mehr von der Suche, sondern vom Versuch, sesshaft zu werden. Die Geschichte spielt im Oregon der 1820er Jahre. Zwei Männer, Otis »Cookie« Figowitz (John Magaro) und King-Lu (Orion Lee), melken nachts heimlich die einzige Kuh am Ort, die natürlich nicht ihnen gehört, sondern dem örtlichen Grundbesitzer (Toby Jones). Mit der Milch wird gebacken, und das Gebäck verkauft sich gut, ansonsten ist das Leben im Fort karg, und die Menschen haben wenig Freude.
Reichardt deutet alles nur an, die erotische Spannung zwischen den beiden Männern, die von allen anderen sofort als Außenseiter in der Community erkannt werden, die Rolle der Frauen, die hier, zum ersten Mal bei Reichardt seit »Old Joy« nur Nebenrollen spielen. Die Gewalt der Macht. Es entfaltet sich ein selten wirklichkeitsnahes Bild (was hier heißt: ein Bild, das den Eindruck von Wirklichkeitsnähe abstrahlt) des amerikanischen Westens des 19. Jahrhunderts. Reichardt beherrscht ihre Mittel so sicher, dass sich selbst die Menschenjagd in »First Cow« in aller Ruhe vor den Augen der Zuschauer*in vollzieht. Die fast meditative Atmosphäre des Films bedeutet aber keine Indifferenz. »Fort Cow« verweist still auf all das ungelebte, weil unlebbare Leben der Menschen, die in den Mythen nicht vorkommen und vergessen wurden.
»First Cow«: US 2019. Regie: Kelly Reichardt. Buch: Jonathan Raymond, Kelly Reichardt. Mit: John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, Scott Shepherd, Lily Gladstone, 122 Min. Start: 18. November.
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