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Neuerscheinungen, annotiert: RAF und der Schweizer Jura, abgebrannte Bibliotheken und Legenden der Germanistik
Nicht mehr drin
In den 70er Jahren gab es in der Schweiz einen gewalttätigen Befreiungskampfversuch für einen unabhängigen Jura, der aus dem Kanton Bern herausgelöst werden sollte. Das gelang dann auch 1978 mit Hilfe einer Volksabstimmung: Jura wurde zwar kein eigenständiger Staat, aber ein neuer Kanton in der Schweiz. Von heute aus ist es schwierig, diesen Konflikt nachzuvollziehen – wie auch die Unerbittlichkeit, mit der die RAF damals als selbst erklärte Stadtguerilla den westdeutschen Staat bekämpfte (und eigentlich das deutsche Kapital meinte) sehr weit weg wirkt. Diese beiden Auseinandersetzungen hat der Schweizer Schriftsteller Daniel de Roulet in »Staatsräson« übereinandergeblendet und zu einer Kriminalstory verwoben, in der ein machohafter Journalist ziemlich im Dunkeln tappt. Mit seinem Roman verhält es sich so ähnlich wie mit vielen radikalen Ansätzen: Man bekommt erzählt, dass mehr drin sei, aber dann stimmt das gar nicht (A. d. Franz. v. Yves Raeber, Limmat-Verlag, 120 S., geb., 24 €).
Aufs Wissen aufpassen
Wenn alles digital werden soll, was wird dann aus den Bibliotheken und Archiven? Das Wissen bewahren, das ist der Anspruch, aber »Speichern ist nicht dasselbe wie Bewahren«, schreibt Richard Ovenden, Leiter der Bodleian Library in Oxford, in »Bedrohte Bücher«. Ob nun analog oder digital: Es gilt das alte Problem, das John Naisbitt bereits 1982 in seinem Buch »Megatrends« festgestellt hat: »Wir ertrinken in Informationen, aber hungern nach Wissen«. Besonders das auf Internetplattformen gespeicherte Wissen droht verloren oder vernachlässigt zu werden. In »Bedrohte Bücher« rekapituliert Ovenden die Bibliotheksvernichtungen der Vergangenheit: Von der Zerstörung der königlichen Bibliothek in Ninive in Mesopotanien (Tontafeln) über das Niederbrennen der Bibliothek in Alexandria (Papyrus-Rollen) oder vom Angriff auf die Library of Congress in Washington (Bücher). Die jüdische Bibliothek in Wilna wurde im Zweiten Weltkrieg ansatzweise gerettet, indem die jüdischen Zwangsarbeiter, die sie für die Nazis ausschlachten sollten, Dokumente und Bücher ins jüdische Ghetto von Wilna schmuggelten und versteckten. Auch interessant: Dass die USA nach ihrem Einmarsch in den Irak das Archiv der Bath-Partei, das als nationales Gedächtnis des Landes galt, in die Stanford University in Kalifornien verschleppten – entwendet, aber gerettet. Das Archiv soll der irakischen Regierung zurückgegeben werden, allerdings erst, wenn sich die Lage im Land »beruhigt« habe, was auch immer das heißen soll (A. d. Engl. v. Ulrike Bischoff, Suhrkamp, 416 S., geb., 28 €).
Legendäre Germanistik
1959 wurde der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Walter Höllerer an der Westberliner TU Professor und Gründungsdirektor des Instituts für »Sprache im technischen Zeitalter«. 1961 startete er die Zeitschrift »Spr.i. t. Z.« - eine Abkürzung für den Namen des Instituts. Sie wurde zur Hauszeitschrift des Literarischen Colloqiums Berlin, das 1963 ins Leben gerufen wurde. Eine Literaturzeitschrift für neue literarische Ansätze, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Forschungsergebnisse und überhaupt zur Stärkung des aufmerksamen und unabhängigen Denkens. Zum 60. Jubiläum hat die Redaktion zwei Hefte produziert: »Zeitmitschriften 1« und »Zeitmitschriften 2«, mit Texten aus und über die letzten Jahrzehnte. Ist es retro, reaktionär oder relativistisch, festzustellen, dass die Texte über die 60er, 70er, 80er (bspw. von F.C. Delius, Michael Krüger, Ursula Krechel, Sibylle Lewitscharoff, Ulrich Peltzer, Thomas Lehr, Katrin Schmidt) die interessanteren sind? Sie haben weniger Ich, mehr Wir, sind politisch sensibler und nicht so zerlabert (Ausnahmen: Marcel Beyer und Ann Cotten). Könnte man auch so problematisieren: »Der private Bereich wird immer privater und zugleich zur Schau gestellt. Die Öffentlichkeit funktioniert immer weniger, sie ist ja nicht für die User, sondern für die Shareholder da«, schreibt Ann Cotten (Nr. 238, 239, Böhlau, 14 €).
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