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Viele europäische Länder scheinen auf die neue Corona-Welle ziemlich schlecht vorbereitet zu sein. Schweden sieht sich gut gerüstet.

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Steiler Anstieg

Österreich ist Deutschland wohl nur ein paar Wochen voraus

Es war ein zähes Ringen, aber nun ist es fix: Zumindest in den österreichischen Hochinzidenzgebieten Salzburg (1672) und Oberösterreich (1557) gilt ab Anfang kommender Woche ein Lockdown. Sehr wahrscheinlich ist angesichts explodierender Infektionszahlen und ausgelasteter Intensivstationen aber viel eher, dass ab Montag ohnehin ein österreichweiter Lockdown in Kraft tritt. Darüber soll aber erst am Freitag im Rahmen einer Konferenz aller Landeshauptleute unter Beisein von Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) entschieden werden.

Betrachtet man öffentliche Kommunikation und die Realität dieser Tage in Österreich, so könnte man meinen, es handle sich um zwei ganz unterschiedliche Staaten. Da ist Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), der nach wie vor von einer Pandemie der Ungeimpften spricht und einen generellen Lockdown ausschließt - da sind zugleich aber die intensivmedizinischen Kapazitäten am Anschlag und die Triage in Vorbereitung. Da sind die politischen Konzepte, die umfassende Test-Dichte von Gastro bis Arbeitsplatz vorsehen - da sind aber keine Laborkapazitäten, die das auch stemmen. Da sind Maßnahmen, wie der aktuell geltende Lockdown für Ungeimpfte inklusive angekündigter strenger umfassender Kontrollen - diese Kontrollen sind aber nicht sichtbar. Es riecht nach Kollaps dieser Tage.

Dabei mahnen Experten seit Wochen zu harten Einschnitten von Lockdown über Impfpflicht bis Schulschließungen angesichts exponentiell steigender Infektionszahlen auf Pandemie-Rekordniveau. In Wien aber schaltet mit Alexander Schallenberg (ÖVP) ein Kurz-Stellvertreterkanzler, der bisher nicht einen Millimeter von der »Die-Pandemie-ist-für-Geimpfte-vorbei«-Linie seines Vorgängers und Parteifreundes abgewichen ist.

Es ist eine denkbar ungünstige Gemengelage, in der sich Österreich in diesem Herbst befindet: Die Kanzlerpartei gespalten, führungslos und mehr mit sich selbst und der juridischen Reinwaschung ihres Parteichefs Sebastian Kurz beschäftigt, die Regierung folglich in einer Dauerkrise.

Am Mittwoch hat nun Gesundheitsminister Mückstein mit Experten beraten. Dabei über weitere Maßnahmen zu entscheiden, hatte Schallenberg eine Absage erteilt. Jetzt soll am Freitag im Zuge von Beratungen mit den Landeshauptleuten die weitere Vorgehensweise abgestimmt werden. Wie der Chor der Experten meint: An einem Lockdown führt kein Weg vorbei. Nur, dass zuletzt kaum jemand auf die Experten zu hören schien. Stefan Schocher, Wien

Langfristige Strategie

In Schweden setzt man auf Einsicht und behält kühlen Kopf

Schweden schwimmt gegen den Strom. Während in großen Teilen Europas die Infektionszahlen deutlich steigen, stagnieren sie in dem skandinavischen Land seit Monaten auf niedrigem Niveau. Gleiches trifft zu auf die Anzahl der Covid-Kranken auf Intensivstationen und der Todesfälle. Auch hier liegen die Zahlen weit unter denen der vorangegangen Wellen. Entwarnung geben die Gesundheitsbehörden deshalb nicht. Erwartet wird ein neuer Anstieg der Infektionszahlen mit dem Höhepunkt Mitte Dezember.

Ziel ist es, die Kurve so flach zu halten, dass eine Überlastung des Gesundheitswesens vermieden wird. Ab 22. November sollen die Regionen allen Personen ab sechs Jahren mit verdächtigen Symptomen, ob geimpft oder ungeimpft, einen Covid-19-Test anbieten. Auch negativ Getestete sollen wie bisher vor allem bei Atemwegsbeschwerden der Schule, dem Arbeitsplatz oder Freizeitaktivitäten fern bleiben. So soll auch die Ausbreitung des RS-Virus eingedämmt werden, das bei Säuglingen schwere Atemwegsinfekte auslösen kann. Derzeit bereitet die Ausbreitung des RS-Virus den Gesundheitsbehörden parallel zu Corona erhebliche Sorgen.

Mehr als vier von fünf Schweden im Alter über 16 Jahre sind bereits vollständig gegen Covid geimpft. Insgesamt liegt die Quote etwas höher als in Deutschland. Nach einer Erhebung vom Sommer ist die Impfbereitschaft in der Bevölkerung sehr hoch, lediglich sechs Prozent sind ablehnend eingestellt. Insgesamt wurden seit Beginn der Epidemie Anfang 2020 in Schweden etwas mehr als 15 000 Corona-Tote gezählt, knapp 90 Prozent davon in der Altersgruppe der über 70-Jährigen. Entsprechend konzentrieren sich die Booster-Impfungen auch hier zuerst auf die Älteren. Gerade zu Beginn der Coronakrise hatten Mängel in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen, oft infolge von Privatisierungen, dramatische Auswirkungen gehabt.

Das alles dominierende, angstmachende Thema ist Corona in der Öffentlichkeit nicht, auch mit Blick auf die Reichstagswahlen im kommenden Jahr gilt es derzeit nicht als politische Trumpfkarte. Die vom Start weg langfristig angelegte, auf die Mitwirkung der Bürger setzende Linie im Umgang mit der Pandemie stützt sich auf einen breiten politischen Konsens. Sie verzichtete auf drakonische Restriktionen, Maßnahmen wurden nach Lage graduell verschärft. Dabei hatten die Strategen auch die psychosozialen Kollateralschäden für die Gesellschaft mit im Blick. Peter Steiniger

Stagnierende Quote

Die Riesenwelle blieb in Großbritannien bisher aus

Im Gegensatz zu vielen westeuropäischen Ländern ist die Pandemie in Großbritannien seit dem Sommer nicht merklich abgeflaut – aber die Insel hat auch keine weitere große Welle erlebt. Stattdessen verzeichnet man seit Monaten konstant hohe Fallzahlen: Täglich werden zwischen 30 000 und 40 000 Neuinfektionen gemeldet, in manchen Wochen sind es mehr, in anderen weniger.

Seit dem »Freedom Day« am 19. Juli, als alle Covid-Beschränkungen über Bord geworfen wurden, haben Wissenschaftler immer wieder eine Riesenwelle mit über 100 000 Fällen prognostiziert, aber bislang ist sie ausgeblieben. Das verdankt sich hauptsächlich der Impfkampagne, die besonders in der ersten Jahreshälfte im Rekordtempo aufgezogen wurde. Allerdings ist Großbritannien mittlerweile von einigen europäischen Ländern überholt worden, darunter Spanien und Frankreich. Knapp 69 Prozent der Britinnen und Briten haben beide Dosen erhalten, also etwas mehr als in Deutschland.

Dass die Fallzahlen aber dennoch vergleichbar hoch geblieben sind, hat laut Experten vor allem damit zu tun, dass die britische Regierung – die in Gesundheitsfragen nur für England zuständig ist – auf jegliche Einschränkungen im öffentlichen Leben verzichtet. Das heißt: keine Maskenpflicht in Innenräumen, kein Mindestabstand, keine Impf- oder Testpflicht in Restaurants. In Schottland, Wales und Nordirland gelten in vielerlei Hinsicht schärfere Regeln.

Das Impfprogramm hat zwar verhindert, dass sich dies erneut in eine Krise in den Krankenhäusern übersetzt, wie man es im Januar und im Februar sah. Aber dennoch ist der Gesundheitsdienst NHS nah an seiner Belastungsgrenze. Seit Jahren leidet der NHS an Unterfinanzierung und Arbeitskräftemangel, jedes Jahr kämpfen die Krankenhäuser mit einer Winterkrise. Covid verschärft diesen Notstand: Weil im Durchschnitt rund 900 Menschen mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind viele Betten belegt, die für andere Patienten gebraucht würden. Besonders in vielen Notaufnahmen ist die Situation dramatisch: Ein einem neuen internen Bericht ist von Todesfällen in Notfallwagen zu lesen, weil die Patienten wegen fehlender Kapazität nicht im Krankenhaus behandelt werden konnten.

Positiv ist hingegen die Einschätzung von Experten, dass Großbritannien der Pandemieentwicklung in Kontinentaleuropa voraus ist: Die Deltavariante ist hier viel früher eingeschlagen, und so hat das Land das Schlimmste bereits hinter sich. Professor Neil Ferguson vom Imperial College in London geht davon aus, dass Großbritannien in einer »ganz anderen Situation« ist als andere europäische Länder. Peter Stäuber, London

Folgsame Portugiesen

Das iberische Land liegt bei der Impfquote an vorderer Stelle

Nicht auf vielen Gebieten kann Portugal als eines der ärmeren EU-Länder einen Spitzenplatz beanspruchen. Bei den Schutzimpfungen gegen das Coronavirus allerdings hat das Land die Nase weit vorn. Knapp 9 Millionen Menschen auf dem Festland und den Inseln haben bereits den vollständigen Impfschutz. Das entspricht 86 Prozent der Bevölkerung. Der Anteil derer, die mindestens die erste der zwei Impfungen erhalten haben, liegt einen Prozentpunkt höher. Die regionale Verteilung ist sehr gleichmäßig. Eine annähernd so hohe Quote wurde bereits vor mehreren Wochen erreicht. Eingeschlossen sind darin alle Altersgruppen ab 12 Jahre.

Bei den Älteren, für die die durch das Virus ausgelöste Covid-19-Erkrankung in erster Linie ein Risiko darstellt, ist die Impfkampagne faktisch abgeschlossen. Alle Portugiesen und Portugiesinnen über 65 Jahre sind bereits doppelt, alle über 50 mindestens einmal geimpft. Die Impfungen zur Auffrischung des Infektionsschutzes bei den über 65-Jährigen laufen. Seit Beginn der Pandemie im März 2020 wurden in Portugal mehr als 18 000 Todesfälle registriert, bei denen Corona im Spiel war. Mit häufig mehreren Generationen unter einem Dach und dem durch Austerität geschwächten Gesundheitswesen war die Krise für das Land eine schwere Herausforderung, der Familiensinn der Portugiesen dabei eine Hilfe.

Über lange Monate war der Alltag der Portugiesen erheblichen Einschränkungen mit Ausgangssperren, Reiseverboten, Maskenpflicht auch im Freien und weiteren Maßnahmen unterworfen, die auch weitgehend befolgt wurden. Ein Aufatmen war dringend nötig, aber Entwarnung gibt es nicht, nachdem sich Impfungen doch nur als Teilsieg über Covid erwiesen haben. Wirtschaftlich hat vor allem die für das Sonnenland am Atlantik bedeutsame Tourismusbranche schwer gelitten. Aufgrund des erneuten Anstiegs der Fallzahlen soll es nun wieder kostenlose Tests geben und verstärkt im Homeoffice gearbeitet werden.

Eine Neuauflage des Ende des Sommers zum Notstand herabgestuften Ausnahmezustands, der der Exekutive mehr Handlungsfreiheit gibt, ist vorerst nicht geplant, betonen Ministerpräsident António Costa (Sozialisten) und der konservative Präsident Marcelo Rebelo de Sousa. Die linke Opposition hatte den Ausnahme- als Dauerzustand kritisiert. Gleichzeitig gab es Übereinkünfte mit der Regierung, um die sozialen Folgen der Krise abzufedern. Costas Haushaltsentwurf genügte Linksblock, Grünen und Kommunisten in dieser Hinsicht nicht. Die Folge sind Neuwahlen Ende Januar. Peter Steiniger

Stockende Nachfrage

Das Impfangebot wird in Russland nur spärlich genutzt

In Russland starben in den vergangenen Wochen jeden Tag über 1200 Menschen an Covid-19. Damit nimmt das Land in der weltweiten Statistik einen Spitzenplatz ein. Die Zahl der täglich erfassten Infektionsfälle ist hingegen im Augenblick wieder rückläufig und liegt mit unter 40 000 niedriger als in Deutschland. Alternative Schätzungen gehen von einer weitaus höheren Infektionsrate aus und auch die mit zeitlicher Verzögerung veröffentlichten offiziellen Daten zur Übersterblichkeit lassen vermuten, dass auf die Corona-Pandemie in Russland zumindest in der Vergangenheit deutlich mehr Todesfälle zurückgingen als zunächst angegeben.

Anna Popowa, die Leiterin der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor, stellt die derzeit sinkenden Werte in einen Zusammenhang mit Anfang November vielerorts verschärften Kontrollmaßnahmen und Zugangsbeschränkungen für Nichtgeimpfte. In 77 von insgesamt Regionen ist der Zutritt zu Museen, Theatern und anderen öffentlichen Einrichtung nur noch per Vorlage eines QR-Codes möglich, der die Person als geimpft oder genesen ausweist. Alternativ können auch negative PCR-Testergebnisse vorgelegt werden. Einheitliche Regelungen existieren bislang nicht.

58 Millionen Menschen sind inzwischen vollständig geimpft, was einer Quote von rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung Russlands entspricht. Allerdings verläuft die Impfkampagne von Region zu Region sehr unterschiedlich. Während im entfernten und dünn besiedelten Tschukotka oder im an der Grenze zur Ukraine gelegenen Gebiet Belgorod bereits 67 beziehungsweise knapp 64 Prozent der Erwachsenen beide Impfdosen erhalten haben, liegt die Zahl im Gebiet Stawropol bei nur 37 Prozent. Als Anreiz wurden insbesondere für Ältere und medizinisches Personal Prämien bezahlt oder in Aussicht gestellt. An der weit verbreiteten Skepsis und dem Glauben, dass eine solche Maßnahme womöglich mehr Schaden anrichte, als Nutzen bringe, ändert das wenig.

Impfwillige scheitern jedoch nicht selten an ausstehenden Lieferungen zugelassener Vakzine. EpiVacCorona war in einigen Regionen zeitweise komplett aus dem Impfangebot verschwunden, auch bei Sputnik Light werden immer wieder Defizite verbucht und selbst von Sputnik V sind nicht überall genügend Dosen für die Erst- und vor allem die Zweitimpfung vorhanden. CoviVac findet ohnehin nur ganz selten Anwendung. Ute Weinmann, Moskau

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