- Politik
- Corona-Politik
Der lange Weg zur Endemie
Während die Politik mit der Anzahl der Gs ringt, geht es um die Ls: Laufen lassen oder Lockdown?
Plötzlich bricht in Deutschland wieder Hektik in der Corona-Pandemie aus: Eine politische Krisensitzung jagt die andere, immer neue Maßnahmen werden andiskutiert, Teile der Gesellschaft sind durch die Infektionslage aufgeschreckt. Die öffentliche Diskussion läuft irgendwo zwischen Panikmache und Verharmlosung, zwischen Ratlosigkeit und vermeintlichen 1G-, 2G- oder 3G-Königswegen.
Es sorgt für Unruhe, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) ständig neue Höchststände bei der Sieben-Tage-Inzidenz meldet - am Freitag 340,7 je 100 000 Einwohner. Ganz vergleichbar sind die Zahlen mit früheren aber nicht: »200 ist das neue 50«, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Sommer mal ganz locker. Die Botschaft: Dank millionenfacher Impfung kann man sich höhere Inzidenzen leisten, bevor gehandelt werden muss. Die 200 wurde gerissen, ohne dass etwas passierte. Erst jetzt bringen die künftige Ampel-Koalition im Bund und die Ministerpräsidentenrunde Maßnahmen auf den Weg.
Was diese taugen, lässt sich nur beurteilen, wenn man die Lage genauer kennt. Im Grunde haben wir eine Welle der »sozial Aktiven«, was bei einer Infektionskrankheit normal ist. Als seit Ende August und vor allem seit Anfang Oktober die registrierten Zahlen in die Höhe gingen, traf es zunächst die ganz Jungen. Die Aufhebung wichtiger Maßnahmen in Schulen wie die Quarantänepflicht beförderte dies massiv. Es folgten zunehmende Partyaktivitäten nach den öden Lockdown-Monaten, wobei gerade die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen für Geimpfte und Genesene bei 2G-Veranstaltungen fatale Folgen hatte. Das Virus verbreitet sich ja am schnellsten in schlecht gelüfteten, prall gefüllten Innenräumen. Noch immer hat die Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen die höchste Inzidenz, doch die Infektionen haben schon wegen ihrer schieren Zahl längst alle erreicht, auch die vulnerablen Gruppen: Ältere ab 60 und Jüngere mit Vorerkrankungen. Daher liegen wieder viele Menschen im Krankenhaus und sogar auf der Intensivstation mit stark steigender Tendenz. Ungeimpfte sind einer deutlich höheren Gefahr ausgesetzt, aber der Anteil doppelt Geimpfter unter den Covid-19-Patienten auf Intensivstationen liegt bei rund 40 Prozent - wobei man berücksichtigen muss, dass unter den Alten 87 Prozent geimpft sind. Es gibt durch Impfung also einen relativ guten Schutz vor schwerer Erkrankung, er lässt in den vulnerablen Gruppen aber mit der Zeit nach.
Rund 60 000 tägliche Neuinfektionen werden derzeit registriert. Das RKI mutmaßt sogar, dass es doppelt oder dreimal so viele sind. Viele haben keine Symptome oder nehmen, gerade wenn sie vollständig geimpft sind, Covid-19 auf die leichte Schulter und melden es nicht, um nicht in tagelange Isolation zu müssen. Bei solch hohen Fallzahlen ist jede Kontaktnachverfolgung unmöglich, und es kommt zu sich selbst verstärkenden Prozessen, was sich im Exponentialwachstum ausdrückt. Daher findet das Virus den Weg selbst in die Altersheime - aktuell sind 195 Ausbrüche registriert. In den neuesten Zahlen findet sich aber auch etwas Positives: Der R-Wert, also wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, ist seit dieser Woche leicht rückläufig und liegt bei 1,1. Das könnte daran liegen, dass viele Leute im Alttag wieder etwas vorsichtiger geworden sind. Da der R-Wert noch über 1 liegt, steigen die Fallzahlen weiter, aber der Anstieg verlangsamt sich.
Dies ändert nichts am Grundproblem, dass die Lage in vielen Regionen völlig außer Kontrolle geraten ist. In keinem Verhältnis dazu stehen die Maßnahmen im neuen Infektionsschutzgesetz, die vielleicht geeignet sind, die Kurve etwas abzuflachen. Der Hallenser Epidemiologe Alexander Kekulé vergleicht diese mit dem »Versuch, mit zwei Gießkannen einen Waldbrand zu löschen«.
Eigentlich ist klar: Will man die riesige Infektionswelle binnen weniger Wochen einfangen, führt nichts an einem neuerlichen Lockdown vorbei. Konkreter gesagt: am massiven Zurückfahren sozialer Aktivitäten in Innenräumen. Da die Politik dies über Monate ausgeschlossen hat, soll er wenigstens anders heißen. Grünen-Chef Robert Habeck etwa spricht von »Kontaktbeschränkungen«. Eine Expertengruppe um die Frankfurter Modelliererin Viola Priesemann hat in einem aktuellen Strategiepapier für den Winter 2021/22 einen pfiffigeren Begriff geprägt: »Not-Schutzschalter« zur Entlastung des Gesundheitssystems. Neben Homeoffice und Testpflicht am Arbeitsplatz beinhaltet dieser die Senkung der Gruppengröße in Kindergärten und Schulen sowie die Schließung/Reduktion von Geschäften, Restaurants, Dienstleistungen und Veranstaltungen. Mit einem solchen »Not-Aus« für alle, egal ob geimpft oder nicht, könne binnen zwei Wochen »die Inzidenz um einen Faktor 4 reduziert werden«. Auch wenn solche Rechnungen mit Vorsicht zu genießen sind, zeigen sie einen Weg auf. Mittelfristig helfen uns laut den Experten dann eine höhere Impfquote und breites Boostern über die kalte Jahreszeit.
Es gibt aber auch eine Alternative, die die Politik in den vergangenen Monaten, wenngleich unbeabsichtigt, praktiziert hat: Man lässt die Welle bei den Jungen und sozial Aktiven durchlaufen und setzt darauf, dass sie durch zunehmende Immunisierung der Bevölkerung quasi von selbst abebbt. Das hat zum Ziel, im Frühjahr die ersehnte »Endemie« zu erreichen, ein regelmäßiges Auftreten von Covid-19 in geringer Zahl und Schwere. Die riskante Strategie wäre sicher nur dann verantwortbar, wenn die staatlichen Stellen sofort in den Notfallmodus umschalten, um die vulnerablen Gruppen zu schützen: massenhafte Boosterimpfungen der über 60-Jährigen, Impfkampagne für die noch ganz Ungeimpften in diesen Gruppen, bessere Sicherung der Altersheime auch durch Impfplicht für das Pflegepersonal.
Es geht also um eine politische Grundsatzentscheidung: Laufenlassen oder Lockdown. Diese hätte in den Sommermonaten breit gesellschaftlich diskutiert und entschieden werden müssen, um für den Herbst vorbereitet zu sein. Das war Deutschland auch 2021 nicht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.