»Europäische Werte lassen sich nicht erkaufen«

Dagmara Jajeśniak-Quast über Polens Verhältnis zur EU, die Macht der Kirche, das verschärfte Abtreibungsgesetz und die Flüchtlingsfrage

Prof. Dagmara Jajeśniak-Quast
Prof. Dagmara Jajeśniak-Quast

Die EU unterstützt die Abriegelung der polnischen Grenze zu Belarus. Dabei hat Brüssel immer wieder die Verletzung europäischer Werte durch Warschau angeprangert, nicht nur bei der Aufnahme von Geflüchteten, sondern auch bei der Rechsstaatlichkeit. Ist der Vorwurf gerechtfertigt, Polen sei ein antieuropäischer Staat?

Interview
Dagmara Jajeśniak-Quast leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Derzeitig konzentriert sich ihre Forschung auf das Thema »Soziale Wirtschaft«. Mit der Professorin für Wirtschaftswissenschaften sprach Uwe Sattler.

Ich halte diesen Vorwurf nicht für gerechtfertigt. Es gibt in Polen eine wirklich sehr große Anhängerschaft der EU – die letzte unabhängige Befragung vom Oktober 2020 hat ergeben, dass es tatsächlich bei 90 Prozent der Befragten Zustimmung zur Europäischen Union gibt. Ich glaube übrigens auch, dass die polnische Regierung keinen Polexit möchte. Sie will vielleicht die EU und deren Werte verändern, aber keinen Austritt.

Noch vor wenigen Jahren ist die Zustimmungsrate zur EU in Polen gesunken. Das hat sich gedreht?

Die Zustimmung ist tatsächlich wieder gewachsen. Ich glaube, das hängt mit der Angst vor einem Polexit zusammen. Die meisten Menschen sehen das Positive, das sich durch den Beitrittsprozess und die EU-Mitgliedschaft in Polen entwickelt hat.

Ist ein Polexit tatsächlich eine ernsthaft diskutierte Option?

Ich halte das auf keinen Fall für eine Option. Der Brexit hat gezeigt, welche Folgen das für Großbritannien und vor allem für die Bürger Großbritanniens hat. Trotz aller gegenteiligen Erwartungen ist es seinerzeit aber zu einer Zustimmung der Bevölkerung zum Brexit gekommen. Ich hielte es für verheerend für Polen wie auch für die EU, sollte es zum Polexit kommen. Ausgeschlossen ist ein solcher Schritt der Regierung aber natürlich nicht.

Wie erklären Sie sich den Widerspruch zwischen der breiten Zustimmung in der Bevölkerung zur EU und dem antieuropäischen Auftreten polnischer Regierungsvertreter, beispielsweise kürzlich von Premier Mateusz Morawiecki vor dem Europaparlament? Oder war die Rede des Regierungschefs, der sich unter anderem eine Einmischung der EU in innerpolnische Angelegenheiten verbeten hat, gar nicht so europafeindlich?

Doch, das war sie. Für diesen Auftritt vor dem Europaparlament haben sich viele Menschen in Polen einfach nur geschämt. Der Hintergrund ist vermutlich, dass sich Morawiecki durch die scharfe Kritik am Vorgehen der polnischen Regierung zum ersten Mal sehr in die Ecke gedrängt fühlte. Ich finde es richtig, dass die Europäische Union und die Kommission gegenüber Warschau gezeigt haben: So geht das nicht. Und ich glaube auch, das dies ein bisschen spät passiert ist. Bisher waren Verstöße gegen die europäischen Werte weder für Ungarn noch für Polen oder andere Staaten mit irgendwelchen Konsequenzen verbunden. Nun hat die EU zum ersten Mal Zähne gezeigt. Und dieser Überraschungseffekt und die klaren Ansagen aus Brüssel haben zu einer Art antieuropäischem Befreiungsschlag des Premiers geführt. Aber ich glaube nicht, dass die meisten in Polen so denken.

Die EU-Sanktionen gegen Polen werden mit der Verletzung der europäischen Werte begründet. Das sind aber eher moralische Kategorien. Kann man eine Regierung für deren Missachtung bestrafen?

Das ist zumindest problematisch, zumal diese Werte in Polen durchaus präsent sind, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Wir beobachten in Polen sogar einen langsamen, aber doch stetigen Wertewandel. Wir haben einen enormen Schub der Säkularisierung, die Kirche verliert stark an Einfluss, sowohl als Institution als auch mit ihren Wertevorstellungen. Wir haben eine gestiegene Zustimmung für zum Beispiel LGBTIQ-Gemeinschaften. Das ist vielleicht nicht eine solche Revolution wie 1968 in Deutschland, aber immerhin. Es gibt laut Umfragen inzwischen fast 60 Prozent der Bevölkerung, die einer Gleichstellung eingetragener Partnerschaften von Homosexuellen mit der zivilrechtlichen Ehe zustimmen würden. Daran war vor einigen Jahren noch gar nicht zu denken. Das merkt natürlich auch die Regierung, dass hier plötzlich so eine Differenz besteht, und im Zuge des Wertewandels bekommt auch die Regierungspartei PiS weniger Zustimmung. Nicht nur, dass sie keine klare Mehrheit mehr im polnischen Parlament hat, sondern auch unter der Bevölkerung. Und sogar die Kirche ist gespalten. Es gibt liberale Priester, die sagen, wir möchten eine solche Kirche, die sich von den Menschen entfremdet, nicht. Von daher denke ich, die Regierung ist tatsächlich sehr unter Druck geraten, und zwar von allen Seiten.

Trotzdem ist ein verschärftes Abtreibungsrecht beschlossen worden, also offensichtlich gegen diese Tendenzen, die Sie gerade beschrieben haben. Ist das ein Befreiungsversuch der Regierung oder ein Versuch, diese Entwicklung zu stoppen?

Ich glaube, die Regierung hat bei diesem Gesetz ganz klar Positionen der katholischen Kirche vertreten. Die Kirche ist faktisch die letzte Instanz, die diese Regierung unterstützt. Und die Haltung der katholischen Kirche zur Abtreibung ist bekannt. Praktisch war das ein Pakt: Die Regierung setzt das verschärfte Abtreibungsrecht durch, das die Kirche favorisiert, und erhält dafür weiter deren Unterstützung. Der Großteil der Bevölkerung ist gegen dieses Gesetz in dieser verschärften Ausprägung, das zeigt sich auch an den wirklich großen Protesten von Frauen und Männern. Ich glaube, diese Gegenbewegung ist so stark, dass dieses Gesetz irgendwann doch geändert wird.

Ist das realistisch angesichts der Kräfteverhältnisse im Sejm?

Solange es die PiS mit irgendwelchen Geschenken an die Kirche, man kann es leider nicht anders sagen, zu Mehrheiten im Sejm bringt, lässt sich ein solches Gesetz dort natürlich nicht ändern. Aber es gibt die begründete Erwartung, dass die PiS bei der nächsten Wahl in zwei Jahren die Mehrheit verlieren könnte. Die Unzufriedenheit ist einfach zu groß.

Ist das nicht ein Widerspruch zur wirtschaftlichen Entwicklung, bei der Polen in der europäischen Spitzengruppe mitspielt und die sich auch in bemerkenswerten Sozialleistungen widerspiegelt?

Das ist kein Widerspruch. Der erste Nachwendepremier, Tadeusz Mazowiecki, hat einmal gesagt: Wir haben zur Transformationszeit einen großen Fehler gemacht, weil wir über soziale Reformen gar nicht nachgedacht haben. Es hat einfach keine Zeit dafür gegeben. Dieses Fehlen der sozialpolitischen Komponente hat sich gerächt. Als bei den Wahlen 2015 die PiS-Partei eine Mehrheit errang und einen Politikwechsel vollzog, hat die Regierung der Sozialpolitik Priorität eingeräumt. Das war natürlich etwas populistisch, denn die PiS-Regierung konnte auf die Erfolge ihrer Vorgängerinnen aufbauen. Die wirtschaftliche Lage sah ziemlich gut aus und viele Firmen haben mit staatlichem Kapital große Gewinne gemacht. So konnten viele Wahlversprechen, zum Beispiel die Einführung eines Kindesgeldes und einer 13. Rente im Jahr, umgesetzt werden. Das war sozusagen der New Deal für Polen.

Diese Konjunktur hält an?

Der polnischen Wirtschaft geht es gut, weil die Binnennachfrage enorm groß ist. Und die wird antizyklisch gesteuert. Also in Deutschland wird gespart, wenn die Krise zuschlägt, in Polen wird mit Kindergeld, »Weihnachtsrenten« und anderen Sozialleistungen der Konsum massiv angekurbelt. Die Leute haben unheimlich viel gekauft, investiert, gebaut, renoviert. Und das hat der Wirtschaft wiederum trotz der Krise geholfen. Das schlägt auf die Situation der Menschen durch, praktisch hat Polen Vollbeschäftigung. Trotzdem hat aber gerade diese wirtschaftliche Entwicklung, die Verbindung mit der EU, die enorme internationale Mobilität der Polen zu dem angesprochenem Wertewandel beigetragen. Insofern sind wirtschaftliche Prosperität und die trotzdem verbreitete Unzufriedenheit kein Widerspruch.

Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung sind die polnische Altenpflegerin in Deutschland und der polnische Klempner in Großbritannien also Auslaufmodelle?

Das ist eine parallele Entwicklung zum Wirtschaftsaufschwung in Polen. Es gibt in Deutschland nach wie vor Pflegekräfte, die aus Polen kommen. Die werden inzwischen allerdings mehr und mehr von anderen Nationen ersetzt. Es gibt natürlich auch polnische Putzfrauen in Berliner Wohnungen, zum Glück heute mehr legale als illegale. Prägend für die polnische Wirtschaft sind aber die Verflechtungen mit dem EU-Binnenmarkt und die Innovationen. In Polen sind Firmen entstanden, die Hightech und höchste Qualität für die EU liefern; neben Made in Germany gibt es inzwischen Made near Germany praktisch als Qualitätssiegel. Hinzu kommt der Außenhandel, auch eine Erfolgsstory. Allein zwischen Deutschland und Polen werden jährlich Waren und Leistungen im Wert von 123 Milliarden Euro hin- und hergeschoben. Polen ist ein Anker für die deutsche Wirtschaft.

Auch dank der Fördermittel aus der EU, die einige angesichts der Politik der polnischen Regierung nun gern streichen möchten.

Die EU-Fördermittel sind keine Almosen. Man sollte den Wirtschaftsaufschwung in Polen weder allein auf EU-Fonds schieben, noch politische Aspekte damit verknüpfen. Welcher Staat welche Mittel erhält, ist genau geregelt. Es ist zwar so, dass Polen der größte »Gewinner« der EU-Förderpoltik ist. Aber die Milliarden kommen nicht nur dem Land zugute, sondern auch der Europäischen Union – und nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft. Die Gelder werden zwar in Polen investiert, aber wenn Sie sich umsehen, sind es oft deutsche Firmen, die davon profitieren. Und daher finde ich es problematisch zu sagen, wir geben so und so viel Fördermittel zu euch nach Polen, und deswegen sollt ihr zum Beispiel Geflüchtete aufnehmen.

Aber es ist doch legitim, von Polen solch eine solidarische Haltung nicht nur gegenüber den Schutzsuchenden, sondern auch jenen EU-Staaten zu verlangen, die Geflüchtete aufnehmen.

Mittel aus EU-Fonds und politische Entscheidungen sind zwei unterschiedliche Sachen. Eine Verknüpfung von beiden würde ja bedeuten, dass man sich die Einhaltung europäischer Werte praktisch erkauft. Das kann nicht Sinn der EU sein. Und wenn man richtig zuhört, dann zeigt sich, dass viele Menschen in Polen tatsächlich Geflüchtete aufnehmen würden. Es gab übrigens schon 2015 eine Resolution der größten polnischen Städte: Wir sind offen für die Geflüchteten. Das war deutlich früher als in Berlin und allen anderen Städten. Diese Resolution wurde übrigens von dem im im Januar 2019 ermordeten Gdansker Bürgermeister Paweł Adamowicz initiiert und entsprach auch den verbreiteten Ansichten der christlichen Nächstenliebe in Polen. Ganz klar: Was die Regierung in Warschau sagt, ist nicht die Meinung der Bevölkerungsmehrheit.

Angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise wird gerade von deutschen konservativen Politikern der Ruf lauter, die Grenze zu Polen zu schließen.

Das ist schon gar keine Lösung. Und das wäre verheerend auch für Deutschland, nicht nur für Polen, für die Grenzregion ohnehin. Wir haben in der Grenzregion endlich eine Normalität geschaffen. Lange Zeit war das nicht normal, dass in einer Grenzregion solch enorme Verflechtungen existierten, die Grenze war militärisch abgeriegelt, es gab kaum Kontakte. Vermutlich hat der Bundesinnenminister Angst vor irregulärer Migration und den Folgen für Deutschland. Aber da gibt es doch andere Lösungen. Und man kann sogar mit dem belarussischen Diktator über Lösungsmöglichkeiten sprechen. Mit dem türkischen Präsidenten hat die EU in dieser Hinsicht ja auch keine Berührungsprobleme.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -