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»Tradition braucht Innovation, sonst wird’s Nostalgie«
Beglückend, aber auch sachlich, kritisch, optimistisch - Notizen vom 23. nd-Reisetreff
Ohrenzeuge solcher »Weißt du noch, damals?!«-Gespräche konnte man kürzlich in ebendiesem Hotel immer wieder werden. Hier fand über ein langes Wochenende das diesjährige nd-Lesereisetreffen statt - bereits zum 23. Mal in Folge. Meist werden bei dieser Gelegenheit neue Orte, Städte, Gegenden und Menschen erkundet, doch Szczecin ist schon einmal dran gewesen. Vor fast zwei Jahrzehnten, exakt 2002, und zwar mit demselben Hotel am Rande der Altstadt. Naheliegend, dass dieses zeitliche und örtliche Zusammenfallen die Erinnerungen ganz besonders auffrischte, aber durchaus auch für neue Ideen und Pläne empfänglich machte.
Bei den nd-Leserreisetreffen kommt jedes Mal im Herbst der harte Kern der nd-Leserreisegemeinschaft zusammen. Um nämlich das Reisejahr gesellig mit Gleichgesinnten ausklingen zu lassen, bei Ausflügen, Kultur und Kunst, gutem Essen und oft nicht enden wollenden Gesprächen. Als Rahmen gab es auch diesmal interessante bis mitreißende Programmpunkte. Den Auftakt machte Tino Eisbrenner, Jahrgang 1962, also etwa eine Generation jünger als die der über 100 Reisetreffgäste. Für diese demnach noch ein junger Mann, doch auch bereist seit 41 Jahren auf der Bühne, wie er verriet. Eisbrenner sang, las und spielte aus seinem aktuellen Bühnenprogramm »Kaleidoskop«. Er erhielt viel Beifall für seinen Vortrag wie für sein künstlerisches Konzept. Das lautet »Musik statt Krieg«, und mit seinem Programm tourt er auch immer wieder durch ehemalige Sowjetrepubliken. Der Funken in Szczecin sprang zudem vielleicht auch deshalb schnell über, weil sich die höchst reiseaffine Zuhörerschaft der globetrottenden Vita Eisbrenners eng verbunden sah.
So inspirierend und locker ging es an den vier Tagen weiter: beim Reise- und Buchmarkt, bei ausgedehnten Stadtbummeln, bei Ausflügen in die Umgebung der baltischen Hafen-, Werft- und Universitätsstadt. Irmtraud Gutschke, inzwischen auch als Literatur-Podcasterin unterwegs, las aus dem von ihr herausgegebenen Hermann-Kant-Buch »Therapie«. Thomas Billhardt, einer der Nestoren der DDR-Fotografie, verzauberte sein Publikum mit seinen »Bildern der Welt« und lud für 2022 zu einer nd-Leserreise mit ihm nach Chile im Oktober ein. Ihm gleich tat es der Autor dieser Zeilen, als Guide schon viele Jahre auf dem Balkan unterwegs, mit nd-Leserreisen nach Bulgarien (April) sowie Montenegro/Albanien (Oktober). Ines Wallrodt von der nd-Redaktionsleitung informierte »In eigener Sache« über den Stand der Genossenschaftsbildung im Haus.
Dies alles klingt nach bester nd-Lesereisetreff-Tradition, und das war und ist sie auch allemal. Doch gerade die bevorstehenden strukturellen Änderungen beim »nd« rückten auch einen ganz speziellen Traditionsaspekt in den Vordergrund: »Tradition braucht Innovation, sonst wird’s Nostalgie«, wurde dieser bei einer der vielen kleinen Kaffeerunden in Szczecin treffend auf den Punkt gebracht. Keine Tradition, lernte der Autor dabei auch, sei vor der absurden Phase geschützt, in der »Vernunft Unsinn und Wohltat Plage« werde, wie Goethe es gesagt hätte. Da war es dann auch schon nicht mehr weit bis zur Lebenserfahrung in der DDR.
Seit Langem sinken die Teilnehmerzahlen bei den nd-Leserreisetreffen alternierend mit den Abonnementzahlen der Zeitung. Vor rund 20 Jahren waren die Gäste in Szczecin in elf großen Reisebussen angekommen, diesmal hatten drei Busse gereicht. Hier wie da braucht es eine gemeinsame Trendwende, war ein Tenor der Gespräche in Szczecin.
Diese verliefen allesamt in bewährter, bekannter Weise, nämlich: sachlich, kritisch, optimistisch. Offenbar ganz im Gegensatz zu einem anderen, fast zeitgleich stattfindenden linken Treffen, zufällig ebenfalls in einem Radisson-Hotel. Allerdings in Leipzig. Da war die verstörte, zerstrittene und niedergeschlagene Linke-Bundestagsfraktion zusammengekommen. Hoffen wir, dass so etwas dem »nd« und seinen Leserreisetreffen erspart bleibt. Und stattdessen beim 30. oder auch 40. Treffen die eine oder der andere immer noch mit glücklichem Lächeln fragen wird: »Weiß du noch, damals in Szczecin?!«
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