- Politik
- Bürgergeld
Mit Würde in Armut gehalten
Von einer grundlegenden Reform der Grundsicherung ist im Koalitionsvertrag nichts zu finden
Im Wahlkampf von SPD und Grünen war von einer grundlegenden Abkehr von Hartz IV die Rede. Schon Monate zuvor hatte die SPD beschlossen, dass Hartz IV ersetzt werden müsse, die Rede war von einem »neuen Sozialstaat«. Die Grünen betonten auf ihrer Pressekonferenz zur Überwindung von Hartz IV Anfang des Jahres, das Anliegen sei ihnen »sehr ernst«. Im Bundestagswahlkampf forderten sie eine Erhöhung der Regelsätze um 50 Euro, und das nur in einem ersten Schritt. Außerdem sollten die Sanktionen weg. Auch im SPD-Wahlprogramm stand, die Regelsätze im neuen Bürgergeld müssten zu einem Leben in Würde ausreichen und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen.
Trotz dieser Beteuerungen ist nichts davon in dem am Mittwoch präsentierten Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP zu lesen. Eine Erhöhung der Grundsicherung ist offenbar nicht vorgesehen. Lediglich für die Teilnahme an Fördermaßnahmen soll ein befristeter Bonus gezahlt werden. Das bedeutet, es bleibt bei einer Regelsatzerhöhung von drei Euro im Monat für Erwachsene und Jugendliche ab 2022.
Aufgrund der starken Erhöhung der Verbraucherpreise wird diese Anpassung der Regelsätze von zahleichen Verbänden sogar als Kürzung am Existenzminimum bewertet. Von einer angekündigten Überwindung von Hartz IV könne keine Rede sein, kommentierte daher der Paritätische Wohlfahrtsverband den Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien am Mittwoch. »Angesichts der Not der Betroffenen und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das soziokulturelle Existenzminimum abzusichern, kann hier das letzte Wort noch nicht gesprochen sein«, so der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider.
Auch die Sanktionen bleiben laut Koalitionsvertrag bestehen. Lediglich die Sanktionen, die unter das Existenzminimum fallen, sollen ein Jahr lang ausgesetzt werden. Dann werde eine »gesetzliche Neuregelung« geschaffen, was nicht mehr bedeutet, als dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt wird. Auch an den Mitwirkungspflichten ändert sich nichts, hier kann bei Verstößen also weiterhin die Grundsicherung gekürzt werden.
Es wird aber nicht alles beim alten bleiben. Ein paar kleine Besserungen sind dann doch geplant. Die Prüfung der Wohnung und des Vermögens soll weg. Jedoch nur in den ersten beiden Jahren, in denen jemand das Bürgergeld bekommt. Das Ersparte wird also nicht mehr sofort mit der Grundsicherung verrechnet. Nach den zwei Jahren soll das Schonvermögen höher als bisher sein. Wenn die Wohnung eine »angemessene« Größe übersteigt, müssen Grundsicherungsbeziehende nicht wie aktuell sofort umziehen.
Allerdings könnte sich die Situation trotzdem verschlechtern. Im Koalitionsvertrag ist die Rede von einer pauschalen, regionalspezifischen Auszahlung der Kosten der Unterkunft und Heizung. Eine Pauschale könnte aber beispielsweise für Menschen in Wohnungen mit alten Heizungsanlagen und ohne Wärmedämmung zu gering ausfallen. Zudem will die Ampel-Koalition »den Jobcentern mehr Gestaltungsspielraum und regionale Verantwortung übertragen und die freie Förderung aufwerten«. Auch das könnte zu Ungerechtigkeiten und neuen Problemen führen. Jedoch sollen die Rahmenbedingungen in den Jobcentern so verändert werden, dass »künftig eine Beratung auf Augenhöhe möglich ist und eine Vertrauensbeziehung entstehen kann«. Wozu gut qualifiziertes Personal gehöre.
Immerhin soll die Anrechnung des Geldes, das Jugendliche und junge Erwachsene neben Schule oder Studium verdienen, ein Ende haben. Ebenso die Verrechnung des Einkommens von Pflege- und Heimkindern. Allgemein könnte sich für Kinder und Jugendliche mehr zum Positiven verändern. Die Ampel-Koalition will eine Kindergrundsicherung einführen, um Familien zu stärken und Kinder aus der Armut zu holen.
Ob letzteres jedoch gelingen wird, ist unklar. Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Linkspartei, stellte am Mittwoch eine Berechnung vor, nach der eine Kindergrundsicherung mindestens 487 Euro monatlich betragen müsste. Ansonsten könnte diese sogar zu einer Verschlechterung bei den Ärmsten führen. Denn mit Einführung der Kindergrundsicherung würden für Kinder aus Familien in Hartz-IV-Bezug alle bisherigen Posten wie etwa ihr Regelsatz, kostenfreies Mittagessen und Zuschüsse für Schulbedarf und Klassenfahrten wegfallen. »Wenn es die Ampel ernst meint mit dem viel beschworenen Fortschritt, müssen auch die noch vorhandenen sozial- und armutspolitischen Leerstellen im Koalitionsvertrag im Laufe der Legislaturperiode gefüllt werden«, resümiert Ulrich Schneider vom Paritätischen.
»Wir lösen die Grundsicherung durch ein neues Bürgergeld ab, damit die Würde des Einzelnen geachtet und gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert wird«, so die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag. Die Neuerungen lassen jedoch den bedeutsamsten Aspekt eines würdevollen Lebens außer Acht: ein Leben oberhalb der offiziellen Armutsgrenze.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.