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Melancholie mit Steinharfe
»The Nearer The Fountain, More Pure The Stream Flows« ist Damon Albarns erste Soloplatte seit Jahren
Damon Albarn hat alles abgehakt. Ein globaler Rap-Funk-Hit? Aufnahmen in Mali? Ein neues Arrangement für den Minimal-Music-Klassiker »In C«? Jams mit seinem Jugendhelden, dem legendären Afrobeat-Drummer Tony Allen? Das nennt man wohl »Universalgenie«.
Doch Albarn, der britische Bandleader, Songwriter und Sänger ist nicht einfach ein Multikulti-Freund, der seine Platten mit Features vermeintlich exotischer Musiker und Musikerinnen anderer Traditionen aufzupeppen versteht. Der Mann ist genuin an anderen Kulturen interessiert. Albarn hat Monate und Wochen in Guinea, im Iran, ja sogar in Nordkorea verbracht, doch nirgendwo war er so oft wie auf Island. Lange, ehe eine ganze Generation von Instagram-Touristen die Insel für sich entdecken sollte, besaß der gebürtige Londoner dort ein Haus; seit Anfang 2021 sogar die isländische Staatsbürgerschaft.
»Jede Musik ändert sich durch die Jahreszeiten und die Umgebung«, sagt Albarn, auf grauem Sofa vor Bücherwand sitzend. »Mein Album ist das beste Beispiel dafür - es wurde anfangs nur durch verschiedene Wetterlagen beeinflusst.« Der Brite, der einst die genreprägende Britpop-Band Blur gründete, spricht über seine erste Soloplatte nach sieben Jahren: »The Nearer The Fountain, More Pure The Stream Flows« (Je näher der Brunnen, desto reiner fließt der Strom) - ein rätselhaft sentimentaler Titel, von dem noch die Rede sein wird.
Doch zunächst zum Fernweh-Content: Montag, 16 Uhr, Sonnenuntergang hinter dem Snæfellsjökull. Der Musiker könnte seinen 540 000 Instagram-Abonnenten problemlos im Vier-Stunden-Rhythmus ein fotografisches Update der Wetterlage im Nordwesten Islands geben. Dort, 200 Kilometer von Reykjavík entfernt, liegt der von einem riesigen Gletscher bedeckte Vulkan, an dem Jules Verne seine »Reise zum Mittelpunkt der Erde« beginnen ließ. Ein mythischer Ort, auf den Damon Albarn täglich aus seinem Wohnzimmerfenster blickt. Aber das Smartphone hat er dann doch liegen lassen.
Man schrieb das Jahr 2019, Albarn meditierte über Polarlichter und Kormorane und dachte dabei gleichzeitig an seine Erlebnisse bei islamischen Beerdigungszeremonien im Iran. Er lud befreundete isländische Musiker ein, man nahm im Kreis um ein einziges Mikrofon herum auf. »The Nearer The Fountain …« sollte eigentlich ein langes orchestrales Stück werden. Der Lockdown im Frühjahr 2020 zwang Albarn, das Album in England fertigzustellen. Er lud alte Weggefährten wie den Gitarristen Simon Tong in sein Studio - wieder ans Wasser, in die südwestenglische Provinz Devon. Er begann, Texte zu komponieren, die Naturbeobachtungen mit existenziellen Gedanken verbanden. »Es ist keine morbide Platte«, sagt Albarn, »aber eine, die sich der Sterblichkeit bewusst ist.«
Behandelte sein grandioses erstes Soloalbum, »Everyday Robots«, noch die Orte seiner Kindheit in und um London, geht es nun ums große Ganze. Zerbrechlichkeit, Verlustängste, Wiedergeburt - den elf neuen Songs wohnt eine Sentimentalität inne, die fast jedes von Albarns Werken der letzten 25 Jahre geprägt hat. Selbst den milliardenfach gestreamten Pop-Hit »Feel Good Inc.« mit der Cartoonband Gorillaz durchströmt diese Albarn-typische Melancholie. Sie deutet die Schatten an, die den jungen Albarn und seine Blur-Kumpels umgaben, als sie mit Anfang 20 ein Hit-Album nach dem anderen lieferten: Starrummel, Alkohol, Heroin.
Der Sänger sagt über den Entstehungsprozess von »The Nearer The Fountain …«: »Ich befand mich auf einer dunklen Reise, die mich zu der Überzeugung brachte, dass es vielleicht noch die eine reine Quelle gibt.« Der Künstler und seine Sehnsucht nach der Reinheit und Unschuld der Jugend? Dabei waren seine formativen Jahre keinesfalls züchtig. In den frühen 90ern gebärdete sich Albarn als intellektuell-hochmütiges Großmaul, prahlte öffentlich mit seinen sexuellen Eroberungen.
Alles Vergangenheit. Längst gibt sich der Brite als gelassener Elder Statesman mit Hipster-Vokuhila. Den Albumtitel hat er einem Werk des 1864 verstorbenen Naturdichters John Clare entlehnt. Die Musik profitiert vom Einsatz von Kopfhörern. Die isländische Natur ist prominent vertreten: Vogelkreischen, Wellenrauschen, Wasserfälle. Lokale Blasmusiker*innen sind zu hören und sogar eine aufwendig hergestellte Steinharfe.
Es gibt hier Synthie-Flächen, dahindämmernden Gesang, elegische Streicher - dann urplötzlich ein jazziges Saxofon und eine fiese Noise-Passage. Zwischendurch ein Instrumental wie »Esja«, das auch zum Soundtrack eines John-Carpenter-Horrorfilms gehören könnte. In »Combustion« schält sich aus dem Lärm ein süßliches Piano-Motiv heraus.
»The Nearer The Fountain …« ist ein bisschen zu fragmentarisch, um echter Pop zu sein. Das Album wirkt unfertig - als habe Albarn während der Postproduktion parallel nach Vulkanstein-Vogeltränken für seinen Garten gegoogelt. Lobenswert allerdings, dass der Produzent fast vollständig auf den Einsatz eines Schlagzeugs verzichtet und einmal mehr auf den meditativ dahinpluckernden Klang eines Drum-Computers aus den 70er-Jahren setzt.
Mit »Polaris« enthält die Platte zudem mindestens einen echten Ohrwurm. Auch »Royal Morning Blue« ist so ein Song, der auf jeder Sonntagmorgenkaffee-Playlist Platz finden könnte. Nicht zuletzt dank des wehmütig warmen Timbres von Damon Albarn.
Die Melancholie ist sein Erfolgsgeheimnis - und sein universelles Musikinteresse. Dabei ist Albarn kein Streber, der sich in ein paar Tagen ein neues Instrument draufschafft. »I’m not particularly good at anything«, sagte er neulich gänzlich unkokett bei der BBC, in diesem unnachahmlich in Five-o-clock-Teatime-Gelassenheit schwingenden Ton. »Ich liebe einfach das, was ich tue, und das reicht.«
Mit »The Nearer The Fountain …« hat es immerhin zu einem hörenswerten Kopfhöreralbum gereicht.
Damon Albarn: »The Nearer The Fountain, More Pure The Stream Flows« (Pias/Transgressive/ Rough Trade)
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