»Die Realität ist noch schlimmer«

Jeton Neziraj macht Theater über den Krieg, die Folgen des Krieges und über die kosovarisch-serbische Annäherung. Manche halten ihn für einen Verräter

  • Tom Mustroph, Priština
  • Lesedauer: 8 Min.
Jeton Neziraj
Jeton Neziraj

Ich treffe Jeton Neziraj in Priština, auf den Betontreppen, die zu einem Kulturpalast führen, der in den 70er Jahren im Stile des damals insbesondere im sozialistischen Gebiet verbreiteten Brutalbetons errichtet wurde. In einer der Katakomben ist das Oda Teatri zu Hause, wo auch Nezirajs Gruppe Qendra Multimedia auftritt. Gerade hat hier die Premiere seines Stücks »Balkan Bordello« stattgefunden. Vor einigen Jahren noch musste Neziraj seine oft sehr politischen Stücke unter Polizeischutz aufführen. Bei der Premiere jetzt war der neu gewählte Ministerpräsident Kosovos, Albin Kurti, unter den Gästen.

Interview
Jeton Neziraj, 44 Jahre, ist ein politischer Theatermacher im Kosovo. In seinen Stücken thematisiert er die Korruption einheimischer und internationaler Eliten; er kämpft gegen die Abschottung des Kosovo und gegen die Mystifizierung des Krieges, der zur Unabhängigkeit führte. In seinem aktuellen Stück »Balkan Bordello« geht es um politische und psychische Kriegsfolgen, angelehnt an die antike Orestie-Trilogie über den Krieg der Griechen gegen Troja, aber sehr stark auf die Situation in der Balkanregion zugeschnitten.

Die Zeiten ändern sich. Statt unter Polizeischutz zu spielen, weil Sie und Ihr Ensemble bedroht wurden, kam jetzt Albin Kurti. Stimmt Sie das froh?

Ich bin froh über jeden Menschen, der sich für Theater interessiert. Albin Kurti kam auch vorher zu uns ins Theater, manchmal schrieb er sogar Kommentare. Aber das war, als er noch in der Opposition war und wir Themen auf die Bühne brachten, die für ihn auch relevant waren. Jetzt hat er keine Zeit für Kommentare mehr, er muss ja regieren. Aber es ist natürlich schön, dass er weiter kommt.

Und ja, die Zeiten ändern sich schnell hier. Was vor drei Jahren noch nicht möglich schien, ist plötzlich Realität.

Ein Thema Ihres Stücks »Balkan Bordello« waren die vielen internationalen Helfer, die weiter im Kosovo sind. Sie haben sie als Personen gezeichnet, die eher von oben herab Entscheidungen fällen, wenig Ahnung vom Land haben und oft in Korruption verstrickt sind. Man sah Kurti auflachen, als es um diese Figuren ging. Treffen Sie jetzt den Nerv der Regierung?

Ich sehe es als meine Aufgabe, Probleme anzusprechen und Konflikte offenzulegen. Die Beschäftigung mit den internationalen Helfern hier ist schon eine regelrechte Obsession von mir. Sie kommen in vielen meiner Stücke vor. Ich pflege sie als humanitäre Söldner zu bezeichnen. Wie die Söldner, die Krieg führen, gehen sie von Nachkriegsschauplatz zu Nachkriegsschauplatz. Sie wollen die Gesellschaften dort detraumatisieren, haben oft aber nur eine sehr oberflächliche Kenntnis vom Land und den Menschen.

Als sie am Anfang in den Kosovo kamen, gingen sie davon aus, dass der Krieg alles zerstört hat und hier nur Wilde überlebt haben, denen man beibringen muss, wie ein Land funktioniert, wie man es regiert, wie man arbeitet und wie man sich ordentlich am Morgen die Zähne putzt.

Sollten diese internationalen Zahnputzoberlehrer rausgehen aus dem Kosovo?

Die, die uns von oben herab behandeln, gerne. Man muss aber auch sagen, dieses Land existiert nur wegen der internationalen Unterstützung. Es wurde mit Hilfe der EU und der USA gebildet, und die KFOR-Truppen sind einfach noch nötig. Und wir sind auch sehr an internationaler Kooperationen interessiert. Die soll dann aber auf Augenhöhe sein.

»Balkan Bordello« wurde im Rahmen des Theaterfestivals Kosovo Theatre Showcase aufgeführt. Ein häufig wiederkehrendes Thema der Stücke war das Verhältnis zu Europa. Besonders Deutschland mit seiner Bürokratie für Visaanträge kam dabei nicht gut weg. Wie schwer wiegt dieses Problem?

Es ist in der Realität noch schlimmer als auf der Bühne dargestellt. Wir können nur in ganz wenige Länder visafrei reisen. Das schränkt das Leben, aber auch die Theaterarbeit massiv ein. Es ist tatsächlich passiert, dass deutsche Botschaftsmitarbeiter verlangten, dass kranke Personen, für die sich ein deutsches Krankenhaus schon zur Behandlung bereit erklärt hatte, zur Botschaft fahren mussten, damit man sich von Angesicht zu Angesicht überzeugen konnte, dass der Mensch schon fast im Sterben lag. Atteste und Krankenakten reichten nicht. Das ist einfach unwürdig.

Man muss auch enorm viel Papier mitbringen, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Versicherungsbescheinigung, Verdienstbescheinigung und Kontoauszüge, damit man nachweisen kann, genug Geld zu haben. Auch eine Bestätigung vom Arbeitgeber, dass man wegfahren kann, war nötig. Bis vor Kurzem musste man sogar noch eine Bescheinigung mitbringen, dass man lebt.

Da reichte es nicht aus, sich lebendig in der Botschaft zu melden?

Nein. Das ist jetzt zum Glück abgeschafft. Das gesamte Problem bleibt aber bestehen. Momentan können wir nicht einmal mehr nach Bosnien-Herzegowina reisen, weil wir dort auch Visa brauchen. Vor einigen Jahren hat sich die kosovarische Regierung entschieden, die gleichen Maßnahmen anzuwenden, nach dem Motto: Wenn ihr Visa für unsere Staatsbürger verlangt, dann müsst ihr auch welche haben, wenn ihr zu uns kommt. Ich bin damit alles andere als glücklich. Ich kann die Regierung verstehen. Aber als Künstler will ich, dass Menschen zu uns kommen und dass auch wir uns frei bewegen können. Über diese formalen Hindernisse hinaus gibt es aber auch nur wenig Neugier der Künstler-Communitys auf die jeweiligen Nachbarländer.

Woher kommt das?

Es handelt sich um ganz bewusstes Desinteresse. Viele wollen damit einen Abstand zur Vergangenheit herstellen, zu der Tatsache, dass wir damals ein Land waren. Die meisten wollen lieber mit Europa und mit den europäischen Werten verbunden sein.

Kooperiert man beispielsweise mit einer deutschen Institution, einem deutschen Künstler, bedeutet das, man hat die gleichen Werte, die gleichen Ästhetiken. Kooperiert man mit seinen Nachbarn, bedeutet das aber, man reduziert sich auf etwas, das Krieg und Konflikte auslöste und das auch die Stereotype über den Balkan und seine Bewohner als gewalttätige Wilde reproduziert.

Vor ein paar Jahren schien mir das gegenseitige Interesse noch größer. Es war, denke ich, wohl auch riskanter. Sie waren einer der Ersten, die für eine Annäherung kosovarischer und serbischer Künstlerinnen und Künstler sorgten. Wie herausfordernd war das damals?

2009 haben wir im Rahmen des Polip-Literaturfestivals serbische Autoren eingeladen, die auch auf Serbisch lasen. Das war das erste Mal, dass nach dem Krieg in der Öffentlichkeit in Priština Serbisch gesprochen wurde. Es war ein Anfang, ein Durchbruch.

Im Jahr darauf hatten wir das erste Theaterstück, »Patriotic Hypermarket«, das ich gemeinsam mit der Belgrader Autorin Minja Bogavac geschrieben hatte. Es wurde erst in Belgrad aufgeführt und kam später nach Priština. Es ging darin um den Krieg und die Folgen des Krieges im Kosovo und in Serbien. Die Premiere in Belgrad musste durch die Polizei geschützt werden. Es war kein leichtes Stück. Es gab auch Spannungen im Ensemble. Der serbische Schauspieler wehrte sich anfangs dagegen, die Rolle eines UÇK-Mitglieds zu spielen.

Die UÇK war die Untergrundarmee, die für die Unabhängigkeit Kosovos kämpfte.

Richtig. Das UÇK-Mitglied half im Stück einer Roma-Familie, aus Serbien zu entkommen. Dann gab es eine Rolle, bei der klar war, dass diese Figuren in Verbrechen verwickelt waren. Kosovarische Schauspieler sagten dazu, dass wir unbedingt herausstellen müssten, dass wir, also die Albaner, die Opfer waren.

Albaner waren aber nicht nur Opfer?

Nein, natürlich nicht. In jeder Nation gibt es die Agamemnons, die Kriegsherren. Wir hatten bei dieser Produktion einen bosnischen Regisseur, Dino Mustafić, das half ungemein beim Lösen der Spannungen. Der albanische Schauspieler hatte dann andere Probleme: Er verlor viele Freunde und wurde als Verräter bezeichnet. Ich hatte da längst das Label eines Verräters, er dann aber auch. Wir wurden wirklich stigmatisiert.

Ich erinnere mich, es war auf dem Flug von Belgrad nach Skopje, das Flugzeug geriet in Turbulenzen und wackelte stark. Er sagte: »Ich hoffe, wir überleben diesen Flug und müssen nicht als Verräter sterben, sondern haben noch Zeit, ein paar patriotische Sachen zu machen.«

Warum Verräter?

Weil wir mit serbischen Künstlern zusammenarbeiteten und in Serbien auftraten. Die Frage war: Warum geht ihr dahin? Warum macht ihr kulturellen Austausch? Sie haben versucht, uns umzubringen.

Und haben Sie in der Zwischenzeit die patriotischen Sachen gemacht?

Es ist andersherum gelaufen: Ich mache meine Arbeit weiter, nur der Kreis derer, die als Verräter gelten, ist größer geworden.

Mir ist aufgefallen, dass die Mittzwanziger hier in Priština mit dem Thema Krieg nicht mehr so viel zu tun haben wollen. Sie halten es für einen Tick der älteren Generationen und wollen ihren Weg frei von diesen Auseinandersetzungen gehen.

Es gibt immer Generationen, die nicht mit Krieg konfrontiert werden wollen. In den 80ern haben wir auch gedacht, Krieg sei kein Thema für uns. Wir lebten in einer friedlichen Gesellschaft. Was sollten wir mit Filmen über den Zweiten Weltkrieg anfangen? Dann aber waren wir plötzlich mittendrin.

Leider ist es immer so: Ein Krieg ist nicht zu Ende, wenn die Waffen schweigen. Die Wunden sind tief und wirken über einen Friedensvertrag hinaus. Deshalb muss man die Erinnerung wachhalten, was geschehen ist und wie es geschehen ist. Ich habe in den 90er Jahren erlebt, wie das Fieber des Krieges viele ergriffen hat.

Sie waren selbst bei der UÇK?

Ja, ich habe einige Zeit bei der UÇK verbracht, einfach weil es damals sicherer war, bei der Armee zu sein. Ich habe da etwas Propaganda gemacht, Texte, Gedichte und Lieder geschrieben für die spezielle Brigade, bei der ich war. Ich habe sogar ein Theaterstück geschrieben, eine Komödie.

Ist die dann auch aufgeführt worden, im Kriegstheater der UÇK?

Nein, bei uns gab es das nicht. Aber es gab andere Brigaden, bei denen auch Theater als Propaganda gezeigt wurde. Und auch deshalb müssen wir über den Krieg sprechen mit den Jüngeren, damit sie wissen, was das mit ihnen macht und wie sich selbst Künstlerinnen und Künstler ändern, wenn sie sich in den Dienst der Mächtigen stellen. Mit dem Wissen von heute hätte ich damals auch anders gehandelt.

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