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Der grinsende Tropfen trägt Schutzmaske
In Brasilien ist es cool, sich impfen zu lassen – dem rechtsradikalen Präsidenten und Impfgegner Jair Bolsonaro zum Trotz
Eine kleine Bar im Osten von São Paulo: Am Tresen sitzen zwei Männer, trinken Bier. Im Fernsehen läuft ein Bericht über die dramatische Coronalage in Deutschland. Einer der Männer fragt ungläubig: »In Deutschland, echt?« Der andere antwortet: »Ja, diese Irren lassen sich nicht impfen.«
Die Szene spiegelt den Unglauben wider, mit dem viele Brasilianer*innen nach Europa blicken. Die Nachrichten über das Coronachaos und die Proteste von Impfkritiker*innen werden kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Im Juli sagten in einer Umfrage nur fünf Prozent der Brasilianer*innen, sie würden sich nicht impfen lassen. Die Zahl dürfte jetzt noch niedriger sein. In den großen Städten sind mehr als 90 Prozent der Erwachsenen zweifach geimpft und es wird bereits fleißig geboostert. Landesweit liegt die Quote offiziell bei 65 Prozent. Selbst Kinder ab zwölf Jahren werden längst geimpft. Das einstige Corona-Sorgenkind spritzt sich aus der Krise.
»Brasilien hat eine sehr lange Impftradition«, sagt Esper Kallás dem »nd«. Er ist Infektiologe und Kolumnist der »Folha de São Paulo«, der größten Tageszeitung des Landes. Bereits in den 1920er Jahren impfte Brasilien gegen die Pocken. In den 1970er Jahren startete das Land Massenimpfungen gegen Krankheiten wie Tuberkulose und Masern. Die Folge: Die Kindersterblichkeit konnte um die Hälfte reduziert werden. Und in der Bevölkerung schaffte man Vertrauen, dass Impfungen sicher sind und schützen.
Zudem gibt es ein flächendeckendes und gut organisiertes öffentliches Gesundheitssystem. Jede*r Brasilianer*in kann kostenfrei einen Arzt aufsuchen. Die Impfkampagne ist in den meisten Bundesstaaten unbürokratisch organisiert. Nach Altersgruppen eingeteilt, wissen die meisten Brasilianer*innen genau, wann ihr Impftermin ist.
Gespritzt wird von mobilen Impfteams, ebenso von Ärzt*innen in rund 40 000 Gesundheitszentren im ganzen Land. Ein solches befindet sich auf einer abschüssigen Straße im Stadtteil Bexiga, unweit des historischen Zentrums der Megametropole São Paulo. Mit der Presse dürfe man hier nicht ohne Genehmigung der Stadtverwaltung sprechen, sagt die leitende Ärztin dem »nd«. Was man jedoch sagen kann: Die Kampagne laufe gut.
Mehrere Menschen sitzen auf Plastikstühlen und warten. Einzeln werden sie aufgerufen: Spritze in den Arm, Stempel in den Impfpass, fertig. Viele lassen sich dabei filmen und laden die Videos in den sozialen Medien hoch. In Brasilien ist es cool, sich impfen zu lassen. Und man ist stolz auf die Erfolge. In São Paulo ist auf elektronischen Werbetafeln an jeder Ecke zu lesen: »São Paulo Welthauptstadt der Impfung.« Mit Zé Gotinha (zu Deutsch etwa: Sepp Tröpfchen) hat die brasilianische Impfkampagne sogar ein Maskottchen: Der grinsende Tropfen, seit der Corona-Pandemie Schmutzmaske tragend, wurde in den 1980er Jahren erschaffen, um Werbung für die Polio-Schluckimpfung zu machen. Er ist längst Teil der brasilianischen Popkultur.
Das größte Land Lateinamerikas ist durch die Erfahrungen mit anderen Epidemien krisenerprobt. Laut Expert*innen kann Brasilien zehn Millionen Menschen an einem Tag impfen – so viel wie kein anderes Land der Welt. Die staatlichen Forschungsinstitute Butantan und Fiocruz sind weltweit bekannt. Das Land produziert zwei eigene Impfstoffe, die bald auf den Markt gehen könnten. Ebenso soll ab 2022 der Biontech-Impfstoff in Brasilien hergestellt werden. Rund 100 Millionen Dosen soll das Land dann pro Jahr produzieren.
Die Bundesstaaten liefern sich mittlerweile einen regelrechten Wettkampf, wer schneller impft. Dabei lief die Impfkampagne schleppend an. Das lag zum einen daran, dass die Industrienationen Anfang des Jahres viele Impfstoffe horteten. Zum anderen schlug der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro Angebote für den Erwerb von Biontech-Impfstoffen aus. Bolsonaro sagte, dass man sich durch die Impfung in einen Kaiman verwandeln könne, und erklärte, sich nicht impfen zu lassen. Zuletzt brachte er in einem Livevideo HIV-Infektionen mit Impfungen in Verbindung. Mit seinem Diskurs versucht Bolsonaro vor allem, an eine internationale, rechtsradikale Anti-Impf-Szene anzuknüpfen, meinen Expert*innen. In Brasilien steht er mit seiner Impfablehnung aber weitestgehend alleine. Selbst die treusten Anhänger*innen des Präsidenten lassen sich impfen.
Die Corona-Pandemie hat das Land schwer getroffen. Mehr als 616 000 Menschen starben an dem Virus. Die Bilder von Massengräbern, schluchzenden Bürgermeistern und verzweifelten Verwandten, die Sauerstoffflaschen in Krankenhäuser schleppten, gingen um die Welt. Monatelang war das größte Land Lateinamerikas Epizentrum der Pandemie. Nun scheint die Lage unter Kontrolle zu sein, die Infektionszahlen sind in den vergangenen Monaten stark zurückgegangen, in vielen Krankenhäusern wurden die letzten Corona-Patient*innen unter Applaus der Belegschaft entlassen. Es gibt die Vermutung, dies hänge damit zusammenhängen, dass einige Städte, wie die Amazonas-Metropole Manaus, wegen hoher Infektionen eine Art Herdenimmunität erreicht haben könnten.
Der Alltag kehrt Stück für Stück zurück. Partys finden wieder statt, die Fußballstadien sind komplett gefüllt und Strände so voll wie vor der Pandemie. Einige Städte wollen im nächsten Jahr mit einer großen Karnevalsparty das Ende der Pandemie feiern. Andere Gemeinden sind vorsichtiger und haben den Karneval bereits abgesagt. Vor einigen Tagen erklärte Rio de Janeiro, dass die weltbekannte Silvesterparty am Strand von Copacabana nicht stattfinden wird. Doch es wird damit gerechnet, dass trotz der Warnungen überall Millionen von Brasilianer*innen zusammenkommen werden. Der Arzt Kallás meint, dass man die Infektionslage nach den Feiertagen genau beobachten und eventuell handeln muss. Für den Infektiologen ist allerdings klar: »Das Impfen ist der Ausweg aus der Pandemie. Für uns ist es deshalb auch so schwer zu begreifen, was gerade in Deutschland passiert.«
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