Lebendig oder tot

Covid-19-Impfstoffe konventioneller Technologie lassen auf sich warten. Die Verfahren brauchen Zeit, Anpassung an Mutanten ist aufwendiger

  • Martin Holtzhauer
  • Lesedauer: 9 Min.

Alpha, Beta, Gamma, Delta ..., und nun ist die Nomenklatur der Sars-CoV-2-Virusmutanten - mit Sprüngen - schon beim 15. Buchstaben des griechischen Alphabets angekommen, beim Omikron. Dass ein Virus mutiert, gehört zu seinen grundlegenden Eigenschaften. Denn nur so ist eine Anpassung an veränderte Vermehrungsbedingungen möglich; eine Eigenschaft, die - mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit - alles Leben auf der Erde besitzt, auch der Mensch. Nur hat der es fürs Überleben nicht mehr so nötig.

Durch den nicht völlig perfekten Kopiermechanismus bei der Vermehrung eines Virus in seiner Zielzelle kommt mal hier, mal da ein falscher Baustein in das Erbgut. Wie sich mancher Leser vielleicht noch aus dem Biologieunterricht erinnert, ist der Bauplan, nach dem Eiweiße aus Aminosäuren aufgebaut werden, mithilfe sogenannter Nukleinsäurebasen gespeichert. Insgesamt stehen die vier Basen A, C, G und U zur Verfügung. Die Kombination aus jeweils drei dieser Basen steht für eine Aminosäure. Wenn nun zum Beispiel in der Sequenz GAU nach fehlerhaftem Kopiervorgang an zweiter Position zufällig ein G landet, wird anstatt des ursprünglichen Asparagins ein Glycin eingebaut. So war es bei der seit dem Frühjahr 2020 zuerst in Europa, dann weltweit auftretenden Mutante B1 und ihren Nachfolgern Alpha bis Omikron. Der Einbau der »falschen« Aminosäure hat dann eine veränderte Struktur dieses Proteins zur Folge - und damit eine veränderte Wirkung.

Wird nun solch ein mutiertes Virus weitergegeben, kann es sein, dass es besser in die Zielzellen eindringen kann oder schlechter vom Immunsystem erkannt wird - das Virus hat dann einen Selektionsvorteil. Mutanten, bei denen eine Verschlechterung erfolgte, haben kaum Chancen und fallen deswegen nicht auf. Übrigens hilft sowohl gegen die Weiterverbreitung der Mutanten als auch gegen das Entstehen neuer ein durch Impfung oder überstandene Krankheit gegen das Virus aktiviertes Immunsystem - und, nach wie vor, eine gut sitzende Mund-Nasen-Maske sowie Abstand!

Beim Sars-CoV-2-Virus konnte man inzwischen beobachten, dass etwa alle zwei Monate eine neue, gut vermehrungsfähige Mutante mit einigen wenigen bis fast 100 Veränderungen in der 30 000 Bausteine großen Erbsubstanz des Virus irgendwo auf der Welt auftritt, die sich aber glücklicherweise nicht immer gravierend unterscheiden. Die inzwischen zu registrierende geringere Wirksamkeit der gegen die ursprüngliche »Wuhan-Variante« entwickelten Impfstoffe deutet auf Veränderungen in den Virus-Oberflächenproteinen hin, die von den durch die Impfung hervorgerufenen Antikörpern nicht mehr so gut eingefangen werden können. Dafür spricht die zunehmende Zahl von »Impfdurchbrüchen« bei der Delta- wie Omikron-Mutante. Diesem raschen Wandel muss nun begegnet werden - mit Auffrischungsimpfungen, besser noch mit modifizierten Impfstoffen, die für Antikörper sorgen, die das Virus wieder gut greifen.

Stichwort Impfstoff. Es sind zwei Grundtypen von Impfstoffen (Vakzine) zu unterscheiden: Lebend- und Totimpfstoffe. Bei den Lebendimpfstoffen handelt es sich um vermehrungsfähige, aber nicht mehr schädigende Viren. Beispiele dafür sind die Vakzine gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Einen für Sars-CoV-2 gibt es (noch) nicht. Alle anderen Vakzintypen sind faktisch Totimpfstoffe, weil die darin wirksamen Bestandteile nicht mehr im Geimpften vermehrungsfähig sind.

Drei Klassen von Totimpfstoffen

Bei den Totimpfstoffen wiederum gibt es drei Klassen: (A) Abgetötete oder inaktivierte Krankheitserreger (zum Beispiel BBIBP-CorV aus der VR China), (B) Impfstoffe mit Teilen der Krankheitserreger wie Oberflächenproteinen (zum Beispiel Soberana-2 aus Kuba, mit dem inzwischen 90 Prozent der Kubaner erfolgreich geimpft wurden, oder der immer noch nicht zugelassene Impfstoff Vidprevtyn des französischen Pharmariesen Sanofi) sowie (C) Impfstoffe, die den Bauplan für Teile der Erreger enthalten und die den Körper anregen, diese Teile zu produzieren und dem Immunsystem zu präsentieren. Hierzu gehören die neuartigen mRNA- und Vektor-Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Moderna oder vom Gameleya-Institut (Sputnik V), die schon in »nd.DieWoche« (13./14.3.21) vorgestellt und seit einem Jahr etliche Hundert Millionen Mal verimpft wurden.

Viele Menschen richten ihre Hoffnung auf die Gruppe B - die nach schon länger bekannten Verfahren hergestellten Vakzine. Sie hoffen, dass diese risikoärmer sind als jene, bei denen Erbinformationen - wenn auch im Vergleich zu denen des Menschen völlig anderer Art - in den Körper gespritzt werden. Dahinter mag neben der Skepsis gegenüber Gentechnik auch die Hoffnung auf bessere Verträglichkeit stecken. Doch wo bleiben diese Impfstoffe? Vielleicht erweckt die nachstehende Beschreibung des Aufbaus und der Produktion dieser Impfstoffe etwas Verständnis für den langen Entwicklungszeitraum bis zur Zulassung.

Bleiben wir beim Beispiel eines Impfstoffs gegen das Sars-CoV-2-Virus. Dank hochentwickelter Analysetechnik, die nach den gleichen Prinzipien wie die bekannten PCR-Tests funktioniert, gelingt es schnell, Mutanten aufzuspüren und ihren Bauplan zu entschlüsseln, vor allem den eines bestimmten Oberflächenproteins, des sogenannten Spike-Proteins (diesen »Stacheln« verdanken Coronaviren ihr Aussehen). Nun kann man zwei Wege beschreiten: Zum einen kann man versuchen, das Virus in Bioreaktoren in großem Maßstab zu vermehren, dann die Viren abzutrennen und in ihre Bestandteile zu zerlegen. Aber schon das Vermehren ist nicht einfach. Man braucht dazu geeignete langlebige Zellkulturen, denn Viren sind sehr wählerisch - Sars-CoV-2 lässt sich nur mit menschlichen Zellen aus den Schleimhäuten von Rachen, Nase und Lunge ein. Der Betrieb solcher Bioreaktoren ist wegen der eingesetzten Materialien und der Reinstraumtechnik extrem aufwendig und damit teuer.

Auch der nächste Schritt, das »Ernten« der Viren und die Auftrennung in ihre Protein-Komponenten, hat es in sich. Einerseits muss sichergestellt werden, dass im Endprodukt keine Begleitstoffe aus den Viren oder ihren Wirtszellen landen. Und da lässt sich manches schwer fassen, anderes wieder verhält sich zu dem gewünschten Produkt so ähnlich, dass es beim Reinigungsprozess leicht mit durchrutscht - anderseits sind besonders Proteine sehr empfindlich und neigen dazu, sich zu verbiegen oder zu verknäulen, und dann sind sie als Impfstoff nicht mehr geeignet.

Ein anderer Weg ist die gentechnische Herstellung der als Impfstoff (virusspezifische Antigene) geeigneten Proteine. Dieser Weg wird zum Beispiel bei den Impfstoffen Soberana-2 und Vidprevtyn beschritten. Da dank der oben erwähnten Analytik der Bauplan bekannt ist, lässt sich diese Information in etablierte, für viele andere Zwecke schon genutzte Zellsysteme einbauen, und man erhält dann ebenfalls in Bioreaktoren sogenannte rekombinante Proteine, die in ihrer Aminosäuresequenz (Primärstruktur) mit dem Spike-Protein identisch sind. Leider gibt es auch hierbei große technologische Hürden zu überwinden. Abgesehen von den Reinigungsprozeduren, die denen bei der Gewinnung aus Viren sehr ähnlich sind, muss auch dafür Sorge getragen werden, dass das rekombinante Protein in seiner räumlichen Struktur dem natürlichen gleicht. Um ein Bild zu gebrauchen: Stellen Sie sich vor, jemand streckt Ihnen eine Faust entgegen: Da fällt das Händeschütteln schwer!

Stolperfallen bei der Herstellung

Schließlich kommt hinzu, dass vielen Proteinen, so auch dem Spike-Protein, nach der eigentlichen Proteinsynthese noch zusätzliche Komponenten wie Zuckerreste angeheftet werden müssen, damit sie dem Original hinreichend ähneln. Doch das können viele der zur Herstellung der rekombinanten Proteine verwendeten Zellkulturen nicht oder nur unvollständig. Das heißt: Die richtige Strukturbildung kann eben nicht jeder Zelltyp gleichermaßen gut. Es müssen weitere Tricks angewandt werden, um die richtige Faltung (Struktur) zu erzielen. Oder die Impfstoffdosis muss unter Umständen erhöht werden - in der Hoffnung, dass das »Richtige« in ausreichender Menge dabei ist.

Bei der Proteinsynthese kommt ein Vorteil der mRNA-Impfstoffe zum Zuge: Es werden für die Bildung des Spike-Proteins jene Synthese- und Faltungsmechanismen genutzt, die auch das infektiöse Virus nutzt; keine Reinigungsprozeduren sind nötig, es wird also sich kaum vom Oberflächenprotein des Virus unterscheiden - aus proteinbiochemischer Sicht nicht zu übertreffen.

Gesetzt, all diese Hürden sind erfolgreich überwunden, kommt die nächste: Das Protein muss dem Immunsystem in solch einer Form präsentiert werden, dass es überhaupt zur Kenntnis genommen wird, noch dazu so, als wäre es das natürliche Virusprotein. Dazu muss das Protein oft mit einem weiteren chemisch verknüpft (konjugiert) werden - bei Soberana mit dem gefährlich klingenden, aber eigentlich harmlosen Tetanus-Toxoid. Oder es muss mit einem Immunverstärker (Adjuvans) vermischt werden, etwa fein verteilten Aluminium- oder Siliziumverbindungen bzw. einer Öl-in-Wasser-Emulsion wie bei Vidprevtyn. Schließlich muss noch eine optimale Rezeptur (Formulierung) für das ganze Gemisch gefunden werden, die Lagerung, Transport und spätere Verimpfung sicherstellt. Bei jedem dieser Schritte sind Stolperfallen möglich, die das Erreichen des Ziels verzögern.

Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, sind klinische Studien unentbehrlich, die die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit des Impfstoffs zweifelsfrei belegen.

Das alles erfordert, neben umfangreichem Wissen, einen großen materiellen und technischen Aufwand sowie Zeit, in der das Virus weiter mutiert und sich dabei so verändert, dass die Antikörper, die sich nach dem Impfen mit dem mühselig hergestellten Impfstoff gebildet haben, es unter Umständen nicht oder nur unzulänglich erkennen und bekämpfen. Die inzwischen bekannt gewordenen geringeren Wirksamkeiten der bisherigen Vakzine haben mit Sicherheit darin einen Grund.

Der immunologische Prozess nach der Impfung ist dann der gleiche wie nach einer Infektion - mit dem Unterschied, dass das Immunsystem das Vakzin, also das gespritzte konjugierte oder adsorbierte Virusprotein oder das abgetötete Virus als fremd erkennt und beginnt, Antikörper zu bilden.

Wie stark, wie gut und wie lang anhaltend dann der Schutz gegen das Virus ist, hängt neben individuellen Faktoren auch davon ab, wie »weitsichtig« der Impfstoff ausgewählt wurde, damit auch zu späteren Mutanten eine große strukturelle Ähnlichkeit besteht. Und da schneiden die bisher eingesetzten konventionell hergestellten Totimpfstoffe nicht besser ab als mRNA- und Vektor-Impfstoffe.

Es kommt eben darauf an, wie gut das verwendete Protein-Antigen - im Falle der mRNA-Impfstoffe der Bauplan für das Antigen - den Proteinen der aktuellen Virus-Mutation entspricht. Denn wenn der Schlüssel nicht mehr ins Schloss passt, könnte es ja sein, dass das Schloss ausgewechselt wurde … Wobei es beim Impfen etwas besser ist: Die jetzt verimpften »Schlüssel« passen ja noch, es »hakt« nur mehr. Erschwerend kommt bei Sars-CoV-2 hinzu, dass mittlerweile weltweit mehrere Mutanten gleichzeitig das Infektionsgeschehen bestimmen, und diese Mutanten mutieren weiter. Und so ist es wahrscheinlicher, dass die Impfstoffe so wie bei der Grippe wieder modifiziert und kombiniert werden müssen und eine erneute Impfung ansteht. Es wäre auch denkbar, in einem zukünftigen Vakzin verschiedene Protein-Varianten in einer Impfdosis zu injizieren …

Theoretisch könnte man mit mRNA- und Vektor-Impfstoffen schneller auf Virusmutationen reagieren, denn die Synthese der passenden mRNA ist im Vergleich zu den eben beschriebenen Prozessen einfacher, und der Rest des Vakzins kann gleich bleiben. Doch klinische Studien sind auch hier nötig - und es kommen Faktoren wie die Ökonomie ins Spiel, wie in »nd.Die Woche« vom 4./5.12.21 gezeigt wurde.

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