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Nicht für alle das Beste am Sex
Der Orgasmus gilt als Höhepunkt und Must-Have beim Sex. Von diesem Orgasmusdruck sollten wir uns trennen
Ein Orgasmus ist eine willkommene Begleiterscheinung von Sexualität. Für viele Menschen ist der Orgasmus Höhepunkt und gleichzeitig Endpunkt eines sexuellen Aktes. Doch er kann auch Stressfaktor sein. Unsere aktuelle Sicht auf den Orgasmus als Happy End, Must-Have und Erlösung erdrückt manche Menschen. Die Ursprünge für diesen Orgasmusdruck liegen in der Biologie, der Leistungsgesellschaft und nicht zuletzt am menschlichen Stolz.
Knick knack. »Lust und Laune« ist dein Beglückungsprogramm rund ums Thema Sex. Dabei sprechen wir alle zwei Wochen über consent, kinky Sex und Dinge, die nicht nur zwischen den Laken passieren. Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein, tauchen in die Tiefe des Begehrens ein und berichten für euch darüber - links und einfach befriedigend. Alle Texte unter dasnd.de/lustundlaune
Betrachten wir den Orgasmus einmal aus der einfachsten, wenn auch problematischsten Perspektive: der Fortpflanzungsbiologie. Ein Orgasmus ist nötig, um Spermien auf den Weg zur Befruchtung zu schicken. Bei Menschen mit Uterus gelingt die Empfängnis hingegen auch ohne den Höhepunkt. Zwar kann ein Orgasmus laut Gynäkolog*innen bei der Entstehung einer Schwangerschaft helfen, er ist jedoch kein Muss. Hier findet sich das erste Problem: In der Natur funktioniert das Zeugen von Nachkommen über den Samenerguss und erhebt ihn zum wichtigsten Moment des sexuellen Aktes bei Säugetieren. Bereits die frühe Menschheit beobachtete dieses Phänomen und reagierte kulturell darauf - der (männliche) Orgasmus war das Ziel, der Samenerguss ein Indikator für Erfolg. All unsere Glaubenssätze und Vorstellungen von »guter« und »schlechter« Sexualität lassen sich auf biologische Gegebenheiten zurückführen, die heute zwar veraltet sind, sich aber hartnäckig in Köpfen und Sprache festhalten.
Da sich der Blick über Jahrtausende hinweg ausschließlich auf den Samenerguss richtete, wurde der klitorale Orgasmus vergessen oder sogar zum Hirngespinst erklärt. Doch auch die gefährliche Assoziation von Orgasmus und männlicher Leistungsfähigkeit entstammt der Natur. Nur wer oft kommen kann, zeugt viele Nachkommen. Einerseits wird so auf männlich gelesene Menschen ein überhöhter Leistungsdruck ausgeübt, andererseits wird der weiblich gelesene Orgasmus unsichtbar, da er in der Fortpflanzungsbiologie keine Rolle spielt. Bereits im Sexualkundeunterricht wird der klitorale Orgasmus gern als Randgebiet behandelt oder ganz ausgelassen. Dass erfüllende Sexualität keine Penetration und auch keinen Samenerguss benötigt, steht jedoch ebenfalls in keinem Biologiebuch. So wird unsere Sicht auf »erfolgreichen« und »gescheiterten« Sex geprägt: penetrativ, leistungsorientiert, in sich abgeschlossen.
Aufgrund dieses Mythos leiden zum Beispiel viele lesbische Frauen unter dem Vorurteil, keinen »richtigen« Sex miteinander haben zu können. Der Penis wird zum Machtinstrument, Erfolgsmesser und Performer, der Orgasmus zur Ziellinie. Besonders unter cis Männern ist die Standfestigkeit und Orgasmusfähigkeit unmittelbar an ihre Vorstellung von Männlichkeit geknüpft. Ein echter Mann soll am besten bei jedem Sex einen Orgasmus haben - und das Gegenüber ebenfalls mit links dazu bringen. Aber er sollte nicht zu schnell oder zu langsam kommen. Und vorspielen geht kaum. Schließlich ist der Samenerguss ein ziemlich verräterischer Indikator dafür, ob der Sex »erfolgreich« war.
Es ist schwer, bei derartigen hohen Ansprüchen zu entspannen. Und das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Orgasmus. Fällt der Orgasmus aus, und sei es nur manchmal, entstehen bei den Beteiligten schnell Selbstzweifel. Sie enden meist in der Frage »Was war los?« und helfen nicht unbedingt dabei, einen entspannten Umgang mit dem eigenen Performance-Druck zu finden.
Doch auch Menschen mit Klitoris erleben einen zunehmenden Performance-Druck beim Sex. In unserer Leistungsgesellschaft wollen wir uns ständig optimieren, stellen hohe Ansprüche an uns und unsere Körper, wollen funktionieren und wie die anderen sein. Wer das Gegenüber nicht zum Orgasmus bringen kann, gilt als Versager*in. Doch für viele Menschen ist ein Orgasmus nichts, was sie in wenigen Minuten mit ein bisschen Streicheln und gut zureden erreichen können, besonders nicht mit neuen Bekanntschaften. Manche Menschen brauchen Zeit und die richtige Stimmung oder einfach nur das richtige Werkzeug dafür. Oder sie können überhaupt keinen Orgasmus im herkömmlichen Sinne erleben. Manche Betroffene empfinden das als problematisch, andere sind damit völlig zufrieden. Schließlich ist der Orgasmus nicht für alle das Beste am Sex. Dennoch spricht kaum jemand darüber, selten oder nie zum Orgasmus zu kommen. Dabei würde ein offener Umgang mit dem Thema allen Betroffenen helfen.
Höhepunkte auf dem Bildschirm
Die Medien und besonders die Porno-Industrie tun ihr übriges, um den Orgasmusdruck auf die Spitze zu treiben. Auch, wenn Sex ohne Orgasmus rein statistisch extrem häufig ist, ist er auf den Bildschirmen unsichtbar. Dabei wird gerade in der Porno-Branche viel getrickst. Es würde viel zu viel Zeit und Energie kosten, auf echte Orgasmen der Darsteller*innen zu warten. Vermutlich würden diese Orgasmen und die zugehörigen Techniken auch nicht so aussehen, wie von der Regie gewünscht. So werden Orgasmen meistens mehr oder weniger überzeugend inszeniert. Glaubwürdigkeit wird hier nicht unbedingt groß geschrieben, die Dramaturgie steht im Vordergrund. Doch auch in nicht-pornografischen Filmen und Serien scheint die Sache mit dem Orgasmus überdurchschnittlich gut zu funktionieren. Bleibt der Orgasmus aus, dient das im Drehbuch oft als Stilmittel, einen Streit zwischen den Protagonist*innen auszulösen oder auf ein Problem hinzuweisen. So halten sie das Tabu aufrecht, über das niemand gerne spricht.
Die populärste Methode, dem andauernden Performance- und Orgasmusdruck zu entkommen ist »Slow Sex«. Dabei geht es um achtsamen und langsamen Sex, der weder Penetration, noch Orgasmen erfordert. Vielmehr steht die sinnliche Berührung und das Einsetzen von allen Sinnen im Vordergrund. Während sich herkömmlicher Sex oft wie eine Jagd auf das Ende anfühlt, hat Slow Sex kein eigentliches Ziel. Vielmehr geht es um das Wahrnehmen und Ertasten des anderen Körpers und dem Erforschen von bisher unbekannten erogenen Zonen. Ironischerweise ist für manche Menschen die Anspruchslosigkeit von Slow Sex genau die richtige Atmosphäre, um einen Orgasmus zu erleben. Eben, weil es nicht erwartet wird. Slow Sex besinnt uns wieder auf das, was Sexualität eigentlich sein sollte: eine zärtliche Begegnung zweier Körper. Bedürfnisorientiert, geduldig und entspannt.
Die Folgen von Orgasmusdruck sind vielfältig. Und das Problem verstärkt sich selbst: Durch das Ausbleiben des Höhepunkts wächst die Angst, Partner*innen zu verletzen oder zu enttäuschen. Durch die Angst wächst die Anspannung beim Sex. Und durch die Anspannung wird ein Orgasmus immer unwahrscheinlicher. Beide Beteiligten werden zusehends unsicher, zweifeln an sich selbst oder dem Gegenüber und vermeiden das Thema irgendwann ganz. Um diesem Teufelskreis zu entgehen, spielen einige Betroffene Orgasmen vor. Dabei wollen sie ihrem Gegenüber meistens nicht schaden, sondern einfach nur ihr Gegenüber bestätigen und für einen Moment dem Leistungsdruck entgehen, um guten Gewissens mit dem Sex aufhören zu dürfen. Darüber wird viel gescherzt. Doch der »Fake Orgasm« entspringt einem ernsten Problem. Wenn unser gesellschaftlicher Umgang mit dem Orgasmus bewirkt, dass Menschen sich genötigt fühlen, ihn vorzuspielen, um sich als gesunde, wertvolle und sexuelle Wesen zu begreifen, haben wir Sexualität missverstanden.
Zeit für guten Sex
Es ist nicht unsere Aufgabe öfter oder seltener zu kommen, sondern dem Orgasmus weniger Macht zu verleihen und ihn nicht mehr als selbstverständliches Must-Have zu begreifen. Wir sollten uns bewusst machen, dass alles, was wir mit dem Orgasmus und seiner Relevanz verknüpfen, kulturell gewachsen ist und letztendlich eine patriarchale Vorstellung von Potenz - maskuliner Macht - aus prähistorischen Glaubensvorstellungen widerspiegelt. Zudem sollten wir einen kritischen Blick auf den Zusammenhang von Orgasmus und Leistungsansprüche werfen. In einer Zeit, in der sich alles um Optimierung, das Erreichen von Performance-Zielen und das Beenden von Aufgaben dreht, sollte die Sexualität einen Gegenpol darstellen und sich ausschließlich nach Bedürfnissen und absolut freiwilligen Wünschen richten. Gesunde und heilsame Sexualität ist frei von Druck, Zweifeln und Versagensängsten. Dabei geht es vor allem um Berührung, Nähe und Aufmerksamkeit. Ein Orgasmus ist dabei ein schöner Nebeneffekt. Es gibt genug schlechten Sex, der mit einem Orgasmus endet. Es ist Zeit für guten Sex, der nicht immer einen braucht.
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