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- Testpflicht und Booster-Impfung
Impfstoff: Der überschätzte Lebensretter
Kurt Stenger missfällt die Aufhebung der Testpflicht für Geboosterte
»Was für eine irrsinnige Idee in der aktuellen Lage«, twitterte Sandra Ciesek. Die Direktorin des Virologie-Instituts am Uniklinikum Frankfurt am Main hat sich in der Corona-Pandemie den Ruf als besonnene, sachlich argumentierende Expertin erworben. Was sie jetzt erzürnt hat, war die Ankündigung des neuen Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD), für Geboosterte die Testpflicht aufzuheben. Die Idee wurde von den Länderkollegen bei ihrem Treffen am Dienstag sofort aufgenommen – entgegen dem Rat der Fachwelt. Immerhin bei medizinischen Einrichtungen bleibt die Pflicht.
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Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Ciesek hat die bisher umfänglichste Laboruntersuchung des Immunescape-Potentials der neuen Omicron-Variante von Sars-CoV-2 geleitet, die zu einem deprimierenden Ergebnis kam: Für doppelt Geimpfte mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff ging der Schutz vor symptomatischer Infektion praktisch flöten, beim Boostern wird er kurzzeitig angehoben, aber nach drei Monaten liegt er noch bei 25 Prozent. Die vielen Durchbrüche bei Geimpften und Genesenen sind ein Hauptgrund, warum sich die Variante im südlichen Afrika und einigen europäischen Ländern so rasant ausbreitet. In Deutschland, so ist anzunehmen, wird dies in einigen Wochen der Fall sein. Gerade das Testen wird seine wichtige Funktion bei der Pandemiebekämpfung noch ausbauen – geradezu fahrlässig ist da die avisierte Lockerung. Denn es sind nicht nur die notorisch Ungeimpften, die massiv zum Infektionsgeschehen beigetragen haben, sondern auch vollständig Geimpfte.
Etwas überraschend setzt Minister Lauterbach damit die so krachend gescheitere Strategie seines Vorgängers Jens Spahn (CDU) fort. Die Bürger werden zum Impfen mit der Aussicht auf Lockerungen und ein normaleres Leben bewegt. Das führt zu Leichtsinn im Alltag. Das politische Vorgehen fußt auf einer Überschätzung dessen, was Vakzine leisten können. Selbst modernisierte Impfstoffe können eine Pandemie nicht einfach »wegimpfen«, was einige Berater den Politikern einflößen, die das gerne glauben, da sie den Wählern damit eine positive Perspektive bieten können. Impfen ist aber nur ein Baustein in einer erfolgreichen Anti-Corona-Strategie, neben zahlreichen weiteren Maßnahmen. Das Auslöschen eines Virus mittels Herdenimmunität kam in der langen Geschichte der Impfstoffe auch praktisch noch nie vor. Es geht um die Begrenzung der schweren Erkrankungen und Todesfälle. Dies leisten die Corona-Impfstoffe weltweit – sie haben viele Menschenleben gerettet. Und das tun sie immer noch. Für Deutschland stellt sich daher die dringende Aufgabe, die vulnerablen Gruppen mit schwachem Immunsystem rasch zu boostern und möglichst auch die drei Millionen ungeimpften Alten zum Impfen zu bewegen.
Ob das Boostern Jüngerer etwas bringt, ist hingegen genauso unklar wie das Impfen der ganz Kleinen oder eine allgemeine Impflicht. Natürlich schadet das alles nichts, doch damit werden die mit dem hohen Risiko eines schweren Verlaufs an die Seite gedrängt. Darüber hinaus werden derzeit, da viele Industrieländer ähnliches tun, noch mehr Impfstoffmengen gehortet, die anderswo nötiger gebraucht werden. Eigentlich sind die Covid-Vakzine weltweit nicht knapp. Laut dem Wissenschaftsanalyse-Unternehmen Airfinity wurden bis zum 30. November 9,4 Milliarden Dosen produziert. Damit hätte man alle über 65-Jährigen dreifach und die über 30-Jährigen doppelt impfen können – und zwar weltweit. In vielen Ländern Afrikas ist hingegen noch nicht mal das medizinische Personal geimpft.
Ziel einer progressiven Impfpolitik müsste es sein, weltweit die Richtigen zu impfen und zwar zeitnah, nicht erst in ein, zwei Jahren, wenn die geforderte Aufhebung des Patentschutzes vielleicht für mehr Nachschub sorgt. In Deutschland hingegen zählt das Motto: »Hoch die nationale Impfsolidarität!« Dass viele Linke da mitgehen, ist ebenso unverständlich wie das Schweigen der neuen Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD). Und so nimmt die Impfperspektive immer abstrusere Züge an: Ulrich Weigeldt, Chef des Hausärzteverbands, geht davon aus, dass wenige Monate nach der dritten die vierte Impfung nötig sein wird. Die jetzt beschlossenen Lockerungen für Dreifachgeimpfte werden dann schnell wieder wegfallen.
Kurt Stenger ist Wirtschaftsredakteur bei »nd«.
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