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Hymne auf Proust
Wie Jean Giraudoux 1919 für einen genialen Autor warb
Ein Kritiker sprach von einem »Schlafmittel«, ein anderer verglich den Autor des Romans »Unterwegs zu Swann« mit Shakespeare und Balzac. Das war 1913, gleich nach Erscheinen des Auftaktbandes zum Riesenepos »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Marcel Proust (1871- 1922) hatte auf den begehrten Prix Goncourt gehofft, aber statt des Preises kam der Krieg, und als der zu Ende war, erschien das Buch ein zweites Mal, diesmal beim renommierten Verlag Gallimard, der eine Veröffentlichung vor Jahren noch abgelehnt hatte.
Nun las den Roman auch Jean Giraudoux (1882-1944), einer der hoffnungsvollen, hochgelobten Erzähler, der es später zu den weltweit meistgespielten Dramatikern Frankreichs brachte (»Der trojanische Krieg findet nicht statt«). Im Frühjahr 1919 trug er noch Uniform, als er gebeten wurde, für eine kleine, eben gegründete Kunstzeitschrift eine Kolumne zu liefern. Er sagte zu, erinnerte zunächst an große Autoren des Vorkriegs und jene, die auf den Schlachtfeldern geblieben waren, um dann einen Romanschriftsteller herbeizuwünschen, in dem Eingeweihte gleich Marcel Proust erkannten. Freilich: Viele Eingeweihte gab es nicht. Proust war noch immer ein Geheimtipp.
»Wünschen Sie nicht«, fragte Giraudoux seine Leser, »dass sich ein Schriftsteller eines Tages, im Alter von dreißig Jahren, bei sich zu Hause verbarrikadiert und von da an unablässig schreibt in seinem mit Kork ausgeschlagenen Zimmer, hinter geschlossenen Fensterläden, damit der Lärm des Boulevard Haussmann nicht zu ihm dringe?« Und er zeichnete, indem er immer weiter fragte, ein Porträt des Autors, sprach von den Kammerzofen und Köchinnen, die in dem Buch vorkommen, von Frauen und guten, weisen, ängstlichen Männern, von Odette, »die allen bekannt ist, die allen gemein ist«, und von Swann, dem beinahe 50-Jährigen, der diese Odette mit den blassen Wangen, den kleinen roten Flecken und müden Gesichtszügen lieben wird. Und dann, fast am Ende seiner Hymne, die Frage, auf die all sein Entzücken zulief: »Wollen Sie nicht endlich lesen, lesen, lesen …?«
Giraudoux’ Huldigung erschien damals mit leichten Veränderungen in den »Feuillets d’art« und noch einmal 1934 in 35 nummerierten Exemplaren. Die Handschrift galt als verschollen, tauchte 2015 überraschend in einem Pariser Antiquariat auf, gelangte von dort in die Bibliotheca Reiner Speck, die größte und spektakulärste private Proust-Sammlung, die es gibt - und nun, als Faksimile, auch in ein schmales, nobel ausgestattetes Buch, eine feine, attraktive Gabe der Friedenauer Presse zum 150. Geburtstag Prousts.
Das Bändchen mit der Handschrift in der Mitte, zweisprachig ediert vom exzellenten Proust-Kenner Jürgen Ritte, macht das frühe Plädoyer für den Franzosen erstmals in Deutschland bekannt und enthält neben der Transkription der Giraudoux-Betrachtung Anmerkungen zum Text sowie Aufsätze des Herausgebers und des Sammlers Reiner Speck, dem dieses wunderbare (und erstaunlich preiswerte) Buchgeschenk zu verdanken ist.
Später, 1921, meinte Giraudoux in einem Brief, man werde erst in 100 Jahren erkennen, »wie großartig Prousts Werk ist«. So lange hat es dann aber doch nicht gedauert.
Jean Giraudoux: In Marcel Prousts Welt. Nach dem Manuskript in der Bibliotheca Proustiana Reiner Speck, hg., transkribiert, übersetzt u. kommentiert v. Jürgen Ritte. Friedenauer Presse, 80 S., geb., 25 €.
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