- Politik
- Kasachstan
Das verdrängte Blutbad von Schangaösen
Vor zehn Jahren endete ein Streik kasachischer Erdölarbeiter in einem Massaker
Ansprachen, Feuerwerk, ein Festkonzert in der Hauptstadt Nursultan: An diesem Donnerstag feiert Kasachstan den 30. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Staatsmedien bejubeln die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte und huldigen Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, der den neuntgrößten Staat der Erde am 16. Dezember 1991 in die Eigenstaatlichkeit führte. Doch am gleichen Tag jährt sich zum zehnten Mal auch ein blutiges Ereignis, welches die staatlichen Fernsehsender des zentralasiatischen Landes nur ungern erwähnen: das Massaker von Schangaösen.
In der trostlosen Wüstenstadt und anderen Siedlungen in den westkasachischen Erdölfeldern von Mangystau brach im Frühjahr 2011 ein Streik Tausender Angestellter der staatlichen Erdölindustrie los. Höhere Löhne, Gefahrenzuschläge und bessere Arbeitsbedingungen - so lauteten die Forderungen der Erdölarbeiter, welche hohe Einnahmen für die Staatskasse erwirtschaften aber unter oft armseligen Bedingungen leben müssen. Die Behörden ignorierten die Forderungen - und stuften den Ausstand als illegal ein. Hunderte wurde entlassen. In Schangaösen besetzten Arbeiter daraufhin den zentralen Platz der 80 000-Einwohner-Stadt und demonstrierten für ihre Rechte. Monatelang reagierten die Behörden nicht. Stattdessen wurden im August 2011 erst ein Gewerkschafter und anschließend die Tochter des Chefs des Streikkomitees ermordet aufgefunden. Die Polizei stritt eine Verbindung zu den Protesten ab.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Nach Monaten schlug der Streik in Schangaösen am Unabhängigkeitstag 2011 schließlich in Gewalt um. Erboste Arbeiter sollen Lautsprecher und andere Technik zerschlagen haben, welche für die geplanten Feierlichkeiten auf den Platz gebracht worden war. Anschließend zündeten sie ein Verwaltungsgebäude an. Die Sicherheitskräfte eröffneten daraufhin das Feuer. Verwackelte Handyvideos zeigen, wie Beamte flüchtende Arbeiter in den Rücken schießen und zu Boden stürzende Demonstranten. Nach offiziellen Angaben kamen 17 Menschen ums Leben. Die Dunkelziffer liegt jedoch wesentlich höher: Die russische Journalistin Jelena Kostjutschenko von der »Nowaja Gazeta« recherchierte kurz nach dem Massaker in Schangaösen und geht von mindestens 64 Toten und 400 Verletzten aus.
Wer das Blutbad angeordnet hat, ist bis heute umstritten. 13 Arbeiter wurden für die Organisation von Massenunruhen zu Haftstrafen zwischen drei und sieben Jahren verurteilt - später jedoch freigelassen. Ex-Präsident Nasarbajew entließ lokale Beamte, mehrere an dem Blutbad beteiligte Polizisten wurden verhaftet, der Regierungschef des Gebietes musste zurücktreten. Weitere Ermittlungen verliefen allerdings im Sand. Hinterbliebene und Menschenrechtler fordern noch immer eine unabhängige Untersuchung des Massakers.
Wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag der Tragödie beschuldigte Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew nun den kasachischen Oppositionspolitiker Muchtar Abljasow, hinter dem Massaker zu stehen. Dieser habe Provokateure bezahlt, welche die Erdölarbeiter mit Wodka aufwiegelten und ihnen Molotowcocktails in die Hände drückten. Der im Exil lebende Politiker wies die Vorwürfe umgehend zurück - und beschuldigte den Ex-Verwaltungschef des Gebietes, das Durchgreifen angeordnet zu haben.
Auf den Ölfeldern um Schangaösen hat sich die soziale Situation der Erdölarbeiter seit der Niederschlagung der Proteste nicht verbessert. Noch immer sind die Arbeitsbedingungen schlecht und die Löhne niedrig. Im August traten erneut Tausende Arbeitern von gut 20 Betrieben in den Streik.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!