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Alle Augen zwinkern
Plattenbau. Die CD der Woche: Jarvis Cocker singt französische Chansons
Frankreich ist das Sehnsuchts- und Neidland der Engländer. Das Wetter ist besser, das Essen sowieso und die Liebe ... Wer einmal auf der Insel gelebt hat, weiß um den Zusammenhang von Vollsuff und Sex. Kein Wunder, dass das Wort »l’amour« den gemeinen Engländer schier um den Verstand bringt. Es suggeriert eine Welt, die ihm unerreichbarer erscheint als Mittelerde.
Jarvis Cocker, einst Kopf von Pulp, kann sich ein Urteil über Mythos und Wirklichkeit erlauben. Denn seit 2003 lebt er in Paris. Zwar ist sein Französisch nach eigenen Angaben immer noch »grauenhaft«, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, in Wes Andersons Film »The French Dispatch« einem fiktiven französischen Sänger namens Tip-Top für ein Lied seine Stimme zu leihen. Und weil das Ganze trotz oder wegen des Akzents recht charmant klang, ließ Cocker sich von Anderson überreden, noch elf weitere Songs einzusingen. Pardon, es muss natürlich heißen: Chansons.
Da »The French Dispatch« in dem Fantasieort Ennui-sur-Blasé (Langeweile an der Blasiertheit) spielt, lag es nahe, das Album »Chansons d’Ennui« zu nennen. Das kann schon deshalb nicht langweilig sein, weil Cocker Stücke intoniert, die man mit Frauen wie Brigitte Bardot und Françoise Hardy verbindet. Auch wagt er sich an Serge Gainsbourgs »Requiem pour un con« und an Alain Delons Part in »Paroles, paroles«.
Doch das Ergebnis enttäuscht beim ersten Hören. Alle Titel stammen aus den 60er und 70er Jahren - und genau so klingen Cockers Versionen. Bei manchen Liedern wurden die ursprünglichen Arrangements sogar eins zu eins übernommen. Möglicherweise geschah dies (wie bei Heinos Coveralbum »Mit freundlichen Grüßen«) aus rechtlichen Gründen; so umgeht man die Zustimmungspflicht der Künstler. Doch selbst bei den Songs, in denen sich Rhythmus und Instrumentierung vom Original entfernen, ist der Sound eindeutig in jener Zeit verhaftet. Ist hier jemand auf Nummer sicher gegangen?
Beim zweiten Hören weicht die Enttäuschung der Irritation. Irgendwas stimmt nicht an dieser Platte, die so betont französisch daherkommt - und es ist nicht Cockers Akzent, den Deutsche, deren Schulfranzösisch schon einige Jahre zurückliegt, kaum als ausländisch identifizieren würden. Nein, das Gefühl der Befremdung entsteht durch etwas anderes. Es ist, als habe man beim Betrachten der Mona Lisa plötzlich den Eindruck, sie würde höhnisch grinsen.
Und dann, beim dritten Hören, fällt endlich der Groschen. Im Waschzettel zu »Chansons d’Ennui« heißt es, das Album sei »eine Hommage an die französische Popmusik«. Tatsächlich ist es eine Dekonstruktion, die - Fans von Jarvis Cocker müssen jetzt stark sein - ähnlich wie das erwähnte Werk von Heino funktioniert. Dieser schaffte es, nur durch seinen Gesang, den Ärzte-Song »Junge« inhaltlich umzuformatieren. Was bei den Ärzten Häme und Spott war, wird bei Heino zu bitterem Ernst - ein Spießer, der meint, was er singt. Cocker gelingt Ähnliches in umgekehrter Weise. Wo die französischen Künstler Überzeugungstäter waren und emotionale Unbedingtheit verkörperten, bringt Cocker eine feine Ironie ins Spiel, die das Gesungene relativiert. Selbst bei einem Schmachtfetzen wie »Paroles, paroles« glaubt man ein dezentes Augenzwinkern, ein unterdrücktes Schmunzeln herauszuhören.
Denn trotz 18 Jahren Leben in Paris ist Jarvis Cocker natürlich im Kern ein Engländer geblieben. Als solchem fällt es ihm - bei aller Faszination für das Savoir-vivre - schwer, die Franzosen hundertprozentig für voll zu nehmen. So schleicht sich etwas Parodistisches in »Chansons d’Ennui« ein. Ausgerechnet jene Blasiertheit, die Engländer gern den Franzosen unterstellen, schimmert durch Cockers Gesang. Was den Unterhaltungswert aber noch steigert. Und so kommt es, dass man beim vierten Hören denkt: Vielleicht sind Engländer ja die überzeugenderen Franzosen.
Jarvis Cocker: »Chansons d’Ennui Tip-Top« (Universal Music)
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