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  • Attentat am Breitscheidplatz

Ein bleibender Riss

Am Sonntag jährt sich der islamistische Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz zum fünften Mal

  • Maximilian Breitensträter
  • Lesedauer: 8 Min.

Sobald es dunkel wird, tauchen Hunderte bunte Neonlämpchen den Platz an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in ein Lichtermeer. Der Duft von gebrannten Mandeln und Crêpes liegt in der Luft, aus den Musikboxen trällern altbekannte Weihnachtslieder, Menschen stehen mit FFP2-Masken an den Glühweinständen: Der Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg hat in diesem Jahr unter Corona-Bedingungen geöffnet.

Kaum eine*r der Besucher*innen, die an den Eingängen ihr Impf- oder Genesenenzertifikat vorzeigen müssen, scheint sich an den Pollern und schweren Metallklötzen zu stören, die als Begrenzung zur Straße aufgestellt sind. Weihnachtsdekoration integriert die Anti-Terror-Maßnahmen in das Gesamtensemble. Auch die Polizeipräsenz - im Hintergrund, aber sichtbar - tut dem Budenzauber keinen Abbruch.

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Und der »Riss«? Manch ein*e Weihnachtsmarktbesucher*in hält für einen Moment an den Treppenstufen vor der Gedächtniskirche inne und schaut auf den goldfarbenen »Riss«, der sich 17 Meter quer über die grauen Bodenplatten von der Budapester Straße über den Platz hoch zum Kirchenplateau zieht. Auf den Stufen mit den eingravierten Namen liegen Blumen, rote Grablichter flackern im Abendlicht vor sich hin. Der Gedenkort nennt die Namen der Opfer des Attentats vom 19. Dezember 2016. Insgesamt forderte der Anschlag 13 Menschenleben. Das vorerst letzte Opfer starb im Oktober an den Spätfolgen.

Das Attentat

Fünf Jahre ist es her, dass der Islamist Anis Amri den Lkw-Fahrer Lukasz Urban erschoss und mit dessen gekapertem Sattelschlepper gegen 20 Uhr durch die Menschenmenge am Breitscheidplatz raste. Neben den Ermordeten verletzte der aus Tunesien stammende Attentäter, der Tage später auf der Flucht in Italien von der Polizei erschossen wurde, weitere 67 Marktbesucher*innen.

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Am Sonntagabend wird an dem Mahnmal in Berlin der Opfer gedacht - mit 13 Glockenschlägen und einer Kranzniederlegung. In der Gedächtniskirche wird es wie in den Vorjahren einen ökumenischen Gottesdienst geben, wegen der Pandemie in einem kleineren Rahmen. Lediglich geladene Gäste wie der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der noch geschäftsführende Regierende Bürgermeister Michael Müller (beide SPD) sowie Hinterbliebenen-Vertreter*innen werden vor Ort sein. Ein Livestream lässt das breite Publikum teilnehmen.

Der »neue« Drahtzieher

Fünf Jahre nach dem bislang schwersten islamistischen Terroranschlag auf deutschem Boden bleiben viele Fragen zum Täter und zu den Hintergründen des blutigen Attentats offen. Woher hatte Amri die Waffe, mit der er den polnischen Fernfahrer Urban ermordete? Wer gab ihm den Auftrag für den Anschlag? Wieso konnte der polizeibekannte Drogendealer und sogenannte Gefährder, der sich in einschlägigen Berliner Salafisten-Kreisen bewegte, nicht von den Sicherheitsbehörden gestoppt werden? Fragen, die auch drei parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Berlin, Nordrhein-Westfalen und auf Bundesebene nicht abschließend klären konnten.

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Anfang dieser Woche machte ein Bericht des RBB Schlagzeilen, wonach ein Reporter*innenteam die Identität eines mutmaßlichen Auftraggebers des Weihnachtsmarkt-Attentats aufdecken konnte - was Bundesnachrichtendienst (BND), Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt bislang nicht vermochten. Zwei Quellen, so der RBB, hätten einen Mann namens Ali Hazim Aziz als Drahtzieher genannt. Bei der genannten Person - Kampfname Abu Bara’a al Iraqi - soll es sich um einen hohen Funktionär des sogenannten Islamischen Staates (IS) handeln beziehungsweise gehandelt haben. Denn ob der Verdächtige, der womöglich in weitere Anschläge in Europa verstrickt ist, noch lebt, darüber sind sich die Quellen aus dem Irak und Syrien uneins.

Klar ist: Auch die deutschen Sicherheitsbehörden verfolgten bereits diese Spur, ließen sie aber im Sande verlaufen. »Zu banal« sei sie gewesen, gab ein Beamter des BND im Februar 2020 vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zu Protokoll.

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Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner saß für Die Linke in ebenjenem Untersuchungsausschuss. Dessen Abschlussbericht, 1900 Seiten dick, wurde im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt. Für die Innenexpertin Renner sind die Informationen aus dem RBB-Bericht nichts grundstürzend Neues. »Es ist bekannt, dass Amri Verbindungen ins Ausland hatte und Teil eines größeren islamistischen Terrornetzwerkes war. Auch die Spur zu dem vermeintlichen Auftraggeber des IS im Irak ist ja nicht neu«, sagt Renner zu »nd«. Wie stichhaltig diese Spur und die Informationen tatsächlich sind, müssten die Behörden nun mit Nachdruck klären. »Der Untersuchungsausschuss konnte keine abschließende Antwort darauf geben, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht noch mehr Informationen über den späteren Attentäter besessen hat«, sagt die Linke-Politikerin.

Die Versäumnisse

Dass es bei den Behörden eklatante Missstände und Fehlentscheidungen im Umgang mit Amri gab, hatten die drei damaligen Oppositionsfraktionen von Linken, Grünen und FDP in ihrem Sondervotum zum Bundestagsausschuss deutlich gemacht. Dort heißt es: »Die den Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten vorliegenden Hinweise aus den Jahren und Monaten vor dem Anschlag wurden in großen Teilen zumindest fahrlässig nicht oder falsch ausgewertet und bewertet.«

Auch der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz hat schwere Versäumnisse bei den Sicherheitsbehörden festgestellt. Von mangelnder Personalausstattung ist die Rede, von unzureichendem Informationsaustausch, falschen Einschätzungen des späteren Attentäters Amri und einem nachlässigen Umgang mit dem Verbotsverfahren gegen die als Salafisten-Treff bekannte Fussilet-Moschee im Wedding.

»Es ist auch im Rückblick unglaublich, wie lange die Behörden an der Einzeltäterthese festhielten und sich nicht für das Netzwerk, das die Tat möglich machte, interessierten«, sagt Sebastian Schlüsselburg, rechtspolitischer Sprecher der Berliner Linksfraktion und ehemaliges Ausschussmitglied, zu »nd«. Das starre Festhalten an der Einzeltäterthese habe dazu geführt, dass gegen Kontaktpersonen des Täters nicht oder nur unzureichend ermittelt wurde. »Das Frühwarnsystem, für das sich der Verfassungsschutz stets rühmt, hat im Fall Amri auf allen Ebenen, im Bund wie in den Ländern, versagt«, kritisiert Schlüsselburg. »Sonst hätte der Anschlag vielleicht verhindert werden können.«

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Für den Linke-Politiker Schlüsselburg ist entscheidend, aus den Ereignissen Lehren zu ziehen. Dazu gehöre, dass die Personalsituation etwa beim Landeskriminalamt heute eine andere als in den Jahren 2015 und 2016 ist. Auch der Opferschutz habe sich verbessert, sagt der Rechtsexperte. So hat Berlin als Konsequenz aus dem Anschlag als erstes Bundesland eine Zentrale Anlaufstelle für Terroropfer eingerichtet, die als Netzwerk zwischen Behörden und Einrichtungen wie Opferhilfsorganisationen oder Kliniken funktioniert. »Nach dem Anschlag mussten die Geschädigten viel zu lange auf finanzielle und psychosoziale Hilfen warten. Diese Strukturen konnten wir in Berlin verbessern, und wir müssen im Senat dafür sorgen, dass auch in Zukunft die entsprechenden Ressourcen bereitstehen«, sagt Schlüsselburg.

Auch Roland Weber, Rechtsanwalt und seit 2012 ehrenamtlicher Opferbeauftragter des Berliner Senats, sieht die Hauptstadt in Sachen Opferschutz heute besser aufgestellt als vor fünf Jahren. »Mit der Zentralen Anlaufstelle konnten wir in Berlin ein breites Netzwerk aufbauen, das mit seinen Hilfsangeboten proaktiv auf Menschen in Ausnahmesituationen zugeht«, sagt Weber zu »nd«.

Das Konzept habe sich etwa bei der Betreuung von Geschädigten nach der Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020 bewährt. Damals hatte ein psychisch gestörter Täter mit seinem Auto absichtlich mehrere Zusammenstöße verursacht. »Bei den Berliner Behörden hat sich eine andere Kultur gegenüber Betroffenen von derartigen Ereignissen entwickelt«, sagt Rechtsanwalt Weber. Die Fehler der Vergangenheit könne das freilich nicht wiedergutmachen.

Die Ignoranz der Behörden

Tatsächlich haben viele Anschlagsopfer und deren Angehörige immer wieder auf die schlechte Behandlung durch die Behörden hingewiesen. Auch fünf Jahre danach sind sie enttäuscht. »Hilflos und ohnmächtig müssen die Opfer und die Angehörigen zusehen und miterleben, wie der Terror für die Geschädigten weitergeht«, schreibt dann auch der Berliner Opfer-Psychologe Rainer Rothe in einem aktuellen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Zuerst hatte der »Tagesspiegel« darüber berichtet.

Rothe betreut der Zeitung zufolge mehr als zehn Opfer des Anschlags vom 19. Dezember 2016 sowie Berliner Opfer des Anschlags von Nizza im selben Jahr. Er beklagt »fatale und menschenverachtende Umgangsformen der Behörden«. Für manche Betroffene sei dieser Umgang genauso retraumatisierend wie der Anschlag selbst. Hilfe sei zum Teil gar nicht oder erst nach Monaten oder gar Jahren geleistet worden, kritisiert Rothe.

Auch wenn der Opferschutz inzwischen also anders aufgestellt sein mag: Der Riss, der seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt vom Breitscheidplatz durch die Leben der Geschädigten und der Hinterbliebenen geht, wird sie für immer begleiten - ebenso wie die Besucher*innen, die in diesem und den kommenden Jahren den Weihnachtsmarkt in der City West aufsuchen.

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