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Geflüchtet, geimpft, gehetzt

John ist aus Libyen nach Deutschland geflohen und hat keine Ausweispapiere. Die Corona-Kontrollen erschweren sein Leben zusätzlich

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 8 Min.

»Impfnachweis und Personalausweis, bitte!« Ruhig holt John sein Handy aus der Innentasche der dunkelblauen Winterjacke. Wir wollen einen Tee trinken und uns in dem Restaurant in Berlin-Mitte kurz aufwärmen. Das Licht ist gedimmt. Auf der Invalidenstraße neben der alten Acker-Markthalle rennen Wartende in die Straßenbahn. Es regnet und auf dem Boden bildet sich Schneematsch. An der Tram klebt der gelbe Aufkleber mit schwarzer Schrift: »3G: Geimpft, genesen, getestet«. Kaum sind wir durch die Restauranttür gegangen, beschlägt schon meine Brille. Das geschieht schneller als sonst zum Jahresende. Der heiße Atem strömt an der Nase vorbei durch die Corona-Maske an die kalten Gläser. »Was soll das denn sein?«, höre ich die Bedienung neben mir laut über Johns Impfnachweis rätseln. Der druckst rum. Sein Deutsch reicht nicht für komplizierte Erklärungen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, grätsche ich schnell dazwischen. »Mein Freund ist geimpft, hat aber keine Ausweispapiere. Die Unterlagen sind in Ordnung. Glauben Sie mir. Sie wurden von der Berliner Stadtmission ausgestellt.« Die junge Frau mustert die ihr unbekannten Nachweise, John hat sie mit dem Handy abfotografiert. Dann betrachtet sie uns beide. Ein Afrikaner mit seltsamen Impfpapieren. Ein Deutscher mit fehlendem Durchblick. Sie überlegt kurz. »Na gut, alles klar!«, sagt sie und scannt meinen Nachweis. Mit dem Gefühl, etwas falsch gemacht, aber Glück gehabt zu haben, dürfen wir bleiben. Im Berlin der 2G- und 3G-Regeln ist jede Bedienung, jeder Barmann, jeder Security-Mann zum Ausweiskontrolleur mutiert.

Ersatzausweis wird in Berlin geprüft

Nicht nur in Pandemiezeiten ist das Leben für Menschen ohne Papiere eine Belastungsprobe. Für Mietverträge oder die Eröffnung eines Bankkontos muss ein gültiges Ausweisdokument vorgelegt werden. Allein in Berlin wird die Zahl illegalisierter Menschen auf mehrere Zehntausend geschätzt.

Die Berliner Linkspartei hat im Jahr 2019 die Einführung eines städtischen Ersatzausweises für alle vorgeschlagen. Dieser soll von Verwaltungen, Schulen, öffentlichen Einrichtungen und Privatunternehmen als Identitätsnachweis akzeptiert werden. Städteausweise in New York (»City ID«) und Zürich (»Züri City Card«) zeigen, dass auch Menschen ohne amtlichen Status an öffentlichen und privaten Dienstleistungen teilhaben können. Der neue Koalitionsvertrag »Zukunftshauptstadt Berlin« von Rot-Grün-Rot hat das Vorhaben vertagt: »Der Senat wird bis 2023 die Einführung einer Berlin City-ID-Card prüfen, damit der Zugang zu Gesundheit, Wohnen, Arbeit und Bildung unabhängig vom Aufenthaltsstatus erleichtert wird«, heißt es in dem Vertrag. bb

Wir setzen uns hin und sind die einzigen Gäste. Wir hatten uns verabredet. Es gibt neue Probleme. John ist 25 Jahre alt. Er ist ein Geflüchteter ohne Papiere. Ohne Aufenthaltsgenehmigung schlägt er sich Monat für Monat durch den Berliner Alltag. Der Handwerker war vor mehr als vier Jahren aus Libyen geflüchtet. Schon seine Eltern, beide aus Ghana, waren auf der Flucht. In Gaddafis Wüstenreich fanden die Westafrikaner eine neue Heimat. Während des Kriegs in Libyen, der noch immer andauert, wurde das Haus der Familie von einer Bombe zerstört. Nur John und seine Schwester überlebten. Jeder Schwarzafrikaner ist den Rebellen, den vom Westen unterstützten Warlords, verdächtig. Auch John wurde als vermeintlicher Gaddafi-Anhänger verfolgt. Auf offener Straße drohten ihm Unbekannte mit dem Tod. Sie hielten eine scharfe Waffe an seinen Kopf. Nach der Flucht über das Mittelmeer ist John in Berlin gelandet. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er hat keine Ausweispapiere und ist deswegen untergetaucht.

Die Schwächsten leiden in der Pandemie

Wir leben im zweiten Corona-Winter. Die vierte Viruswelle rollt, eine fünfte mit der neuen Omikron-Variante ist zu befürchten. Die Jahrhundert-Pandemie hat Johns Leben im Schatten der Öffentlichkeit noch unberechenbarer gemacht. In Notlagen trifft es die Schwächsten immer am schnellsten. Während der ersten Welle mit Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Gastronomieschließungen gehörte er zu den ersten, die ihren Job und damit ihren Lebensunterhalt verloren. Sein Chef setzte zuerst alle Schwarzarbeiter auf die Straße, die in der Küche schufteten. Kurzarbeitergeld für Schwarzarbeiter, vielleicht ein Notfallfonds für Papierlose - an so etwas dachte niemand während der ersten Phase der Coronakrise. Die Untergetauchten haben keine Lobby. Sie sind unsichtbar, führen ein Schattenleben, nehmen jeden Job an und akzeptieren jede Bezahlung. Bloß nicht auffallen. Die Pandemie verschlechtert ihre Lage weiter. Und so leiden sie leise.

Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass deutschlandweit mehr als eine halbe Million Menschen ohne Papiere leben. Bis zum heutigen Tag gibt es vom Staat so gut wie keine Hilfe für diese große Gruppe. Das Überleben ohne staatliche Absicherung wird für Menschen wie John zur völligen Privatsache, während die Politik mit Milliarden-Euro-Rettungspaketen für Airlines, Autokonzerne und Adidas beschäftigt ist. Zu Beginn der ersten Corona-Welle schlägt sich John drei Monate mit Spenden eines großen Unterstützerkreises durch. Seitdem die Lockerungen in Kraft sind, arbeitet er wieder auf Baustellen, in Haushalten, bei Umzügen und in Restaurantküchen. Jetzt hat er einen Tagelöhnerjob. John knetet den Teig für Zwölf-Euro-Pizzen, belegt und backt sie. Dafür bekommt er am Kurfürstendamm nur sechs Euro pro Stunde.

Nun erschweren auch die ständigen Kontrollen das Leben des 25-Jährigen. Für die meisten Bundesbürger ist der Ausnahmezustand von Dauerkontrollen und Ausweispflicht keine Bedrohung wie für Undokumentierte, sondern maximal eine nervige Angelegenheit. Auch ich halte meine amtlichen Dokumente seit Einführung der 3G-Kontrollen stets griffbereit. Im Smartphone ist der QR-Code zum Scannen. In der Hülle auf der Telefonrückseite steckt der Presseausweis mit Namen, Geburtsdatum und Anschrift. Mit dabei habe ich auch Reisepass, Meldebestätigung und Impfnachweis auf Papier, falls mal der Akku leer ist. Der Personalausweis ist seit Jahren abgelaufen. Der Neuantrag scheitert mal an Faulheit, mal an der Überlastung des Bürgeramts.

Ich bin »2G«, genesen und geimpft. Wird ein Testnachweis gefordert, jammere ich über die Umstände und die Tränen, die mir das Teststäbchen bereitet. Doch viel zu schnell vergessen wir unser Ausweisprivileg, schauen nicht über den Tellerrand unserer bürokratischen Normalität. Tatsächlich leben wir in einer Welt, in der nicht jeder seine Personalien, den Covid-Erkrankungsnachweis, Impfstatus und Testergebnis fein säuberlich nachweisbar zur Hand hat. Biometrisches Foto, Meldenachweis, Amtsstempel, Impfampullen-Aufkleber, EU-Impfzertifikat, QR-Code und App helfen zwar, die Pandemie zu besiegen. Für Hunderttausende Menschen ohne Papiere ist die Corona-Ausweispflicht aber ein zusätzlicher, ständiger und vor allem existenzbedrohender Dauerstress.

Ein verdächtig aussehender Impfnachweis

John ist bisher immer durchgerutscht. Er passt höllisch auf, egal, wo er hingeht. Macht einen Bogen um jede Person in Uniform, hält sich vorbildlich und penibel an jede Regel. Tatsächlich kann in der Pandemie jeder noch so kleine Verstoß den staatlichen Sicherheitsapparat auf den Plan rufen. Zu Pandemiebeginn bin ich einmal einer Truppe Polizisten in den Arm gelaufen. Den Mund-Nasen-Schutz hatte ich beim Betreten des Bahnhofs dummerweise erst am Ende der U-Bahn-Rolltreppe aufgesetzt, statt schon oben am Eingang. Die Polizei wartet unten. Die Bewaffneten in Blau sind im Kontrollrausch. Einer schreit etwas von »polizeilicher Maßnahme« und hat seine Hand am Pistolenhalfter. »Identitätsfeststellung, Ausweispapiere!« Behörden schicken später die Rechnung: 50 Euro. Ich ärgere mich. Für John, der keinen Ausweis und keine Meldebescheinigung vorweisen kann, kann ein kleiner Fehler wie dieser schnell in Polizeigewahrsam oder im Abschiebeknast enden.

Wir schlürfen heißen Minztee und gehen die 3G-Regeln bei einer möglichen Kontrolle durch. Genesen? Nein, John war bisher nicht krank. Zum Glück, denn Krankenhaus heißt für John Abschiebung, weil er keine Krankenversicherung hat. Im Krankheitsfall zahlt das Sozialamt die Behandlung und ist verpflichtet, ihn an die Ausländerbehörde zu melden. Auch ein milder Verlauf bringt John kein G. Ohne Ausweis ist ein glaubhafter Nachweis der Covid-Erkrankung und Genesung nicht möglich. Getestet? Die mal kostenpflichtigen, mal kostenlosen Bürgertests in den Testzentren bringen John auch nichts. Wer keinen Ausweis hat, bekommt auch keinen Testnachweis. Bleibt noch die Impfung. John ist mit Johnson&Johnson einfach geimpft. Wir lachen über den Namensvetter-Impfstoff.

Sein Impfnachweis ist allerdings nicht mehr als ein abenteuerlicher Papierwust. Er besitzt ein ärztliches Ersatz-Impfzertifikat mit dem Praxisstempel einer Ärztin. Dazu ein labbriger Behelfsausweis mit Foto, der bei einer Impfaktion für Obdachlose der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße am Berliner Hauptbahnhof erstellt wurde. Das sieht verdächtig aus, als hätte John das selbst gebastelt. Der Nachweis ist ein gefundenes Fressen für jeden übereifrigen Gesetzeshüter. John ist schwarz, was nicht jedem in der alten Mauerstadt gefällt. Da wird schon mal genauer hingeschaut. Da ist man gern mal pingelig. Ordnung muss sein. Nicht zu vergessen die Angewohnheit mancher Polizeibeamter, Menschen anderer Hautfarbe im öffentlichen Raum anlasslos und ganz besonders gerne zu kontrollieren. Am liebsten offenbar zum Monatsende, wenn es frische Fallzahlen für die Polizeistatistik braucht.

Immer in Angst vor der Polizei

Zusätzlich steigt für John das Risiko, über seinen unüblichen Impfnachweis zu stolpern, weil Sicherheitskräfte in diesen Zeiten zur Jagd nach gefälschten Impfnachweisen aufgerufen haben und den Kontrolldruck so weiter erhöhen. Denken die Impfgegner und Impfpassfälscher dieser Tage eigentlich daran, dass ihr Verhalten Menschen wie John weiter in die Enge treibt?

Als wir das Restaurant verlassen, radelt eine knallig gelbe Polizei-Fahrradstreife vorbei. Johns ist die Nervosität anzusehen. »Keine Angst, die kümmern sich nur um den Verkehr«, sage ich. In einer Apotheke bitte ich den Apotheker um Rat. Er ist ein hilfsbereiter Mann. Wir kennen uns seit Jahren. Der Apotheker würde den Impf-QR-Code gerne ausstellen. Er glaubt mir, dass John geimpft ist. Doch zugleich fürchtet er, sich strafbar zu machen und seine Lizenz zu verlieren. Er müsse eine Ausweisnummer ins Computersystem eintragen, sagt er und fügt hinzu: »Tut mir wirklich leid.« Auch ein bekannter Arzt, der in einem der Berliner Impfzentren arbeitet, weiß keinen legalen Ausweg.

Für John heißt das, dass er weiter auf den guten Willen der 3G-Kontrolleure angewiesen ist. Wir hören, dass Wachschutzleute der Berliner Verkehrsbetriebe bisher Menschen ohne Impfnachweis nur die Weiterfahrt verweigern und nicht die Polizei rufen. Wir hoffen, dass dies stimmt. Für die Reportage schieße ich am Rosenthaler Platz noch schnell ein Foto. Auch hier herrschte bis vor kurzem Maskenpflicht. Die Warnschilder hängen noch. Kaum jemand hielt sich daran, nur John, und das bis heute. Bloß keinen Fehler machen. Wir umarmen uns. Er steigt in die Straßenbahn, geflüchtet, geimpft, gehetzt.

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